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Gestern (13.10.2022) nachmittag fand in Berlin eine weitere öffentliche Sitzung des Afghanistan-Untersuchungsausschusses des Bundestags statt. Nach Informationen der Redaktion der Bundestags-„Parlamentsnachrichten“ war dabei die Befragung des ehemaligen Gesandten in der Deutschen Botschaft Kabul, eines ehemaligen Referenten in der Deutschen Botschaft Islamabad, eines Referenten in der Ständigen Vertretung bei der Nato in Brüssel und des ehemaligen Referatsleiters AP 05 im Auswärtigen Amt vorgesehen.

Am Vormittag hatte es eine nichtöffentliche Sitzung gegeben. Hier die Tagesordnung, die darauf verweist, dass es dabei um interne Angelegenheiten ging.

Bundeswehr-Konvoi in Kunduz. Foto: Thomas Ruttig (2007).
Bundeswehr-Konvoi in Kunduz. Foto: Thomas Ruttig (2007).

Eine erste Zusammenfassung (die Zeugenvernehmung dauerte bei Veröffentlichung weiter an) von gestern stellten die Bundestags-„Parlamentsnachrichten“ unter den wenig ergiebigen Titel „Kritik an handwerklichen Fehlern des Doha-Abkommens“. Dies ist seit langem bekannt, wurde ausführlich öffentlich diskutiert, war ersten schon Teil der ersten Expertenanhörung (siehe unten) gewesen und fokussiert die Kritik auf die USA statt auf die Fehlleistungen der deutschen Bundesregierung. Auch das Attribut „handwerklich“ für die Fehler Washingtons (bzw. dessen Afghanistan-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad, der weitgehend freie Hand gehabt zu haben scheint) ist eine krasse Beschönigung dafür, dass Khalilzad schnell seinen ursprünglichen Ansatz „nichts ist vereinbart, so lange nicht alles vereinbart ist“ – d.h. kein Truppenabzug ohne wenigstens Fortschritte bei einer innerafghanischen Friedenschluss bzw. einer Machtteilung – aufgab und damit den Taleban eine Verzögerungstaktik ermöglichte, nämlich den US-Abzug abzuwarten, Kabul kampflos zu übernehmen und die afghanische Regierung preiszugeben. Die von den Taleban zugesagten Gegenleistungen waren auch nicht „vage“, sondern von den USA genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten, nämlich Angriffe auf ihre Truppen und die ihrer Verbündeten (also auch der Bundeswehr) zu unterbinden, aber eben nicht auf ihre afghanischen „Partner“truppen, die danach dem vollen Druck der Taleban ausgesetzt waren – genauso wie die afghanische Zivilbevölkerung. Dazu passt, dass die USA inzwischen Afghanistan ohne großes Aufsehen Afghanistans Status als „wichtiger Nicht-NATO-Partner“ aufkündigten – etwas, das de facto schon mit dem Doha-Abkommen begann.

Wenigstens ein interessanteres Schlaglicht lieferte der ehemalige Gesandte (d.h. Vizebotschafter) in der deutschen Botschaft Kabul, Gregory Bledjian (Mai 2020-Juni 2021), zuvor am deutschen Generalkonsulat in Masar-e Scharif, der mit einem einzigen Satz die frühere offizielle Lageeinschätzung der Bundesregierung konterkarierte: „Im Umfeld des Doha-Abkommens“ – also ab Februar 2020 – sei die Sicherheitslage „immer weiter erodiert. Die Sicherheitslage hat sich kontinuierlich verschlechtert. Täglich wurde ja in der Mehrheit der Provinzen gekämpft. Das war täglich in allen Besprechungen das erste Thema.“

Hier findet sich eine Zusammenfassung aus gleicher Quelle der vorangegangenen öffentlichen Sitzung vom 29.9.2022.

Über einen vielsagenden atmosphärischen Aspekt dieser Sitzung berichtete NDR/WDR/SZ-Investigativreporter Martin Kaul auf Twitter, die von ihm sogenannte „Räusperaffäre“: Dabei sei bei Aussagen bestimmter Zeugen wiederholt „von der Regierungsbank geräuspert“ worden, so dass sich Ausschussvorsitzender Ralf Stegner (SPD) schließlich bemüßigt fühlte, die Vertreter der Bundesregierung zu ermahnen. Er schrieb: „Der schlimme Verdacht: Wollten einzelne Ministerialbeamte möglicherweise Einfluss nehmen auf das Aussageverhalten der Zeugen aus dem Bundesverteidigungsministerium? Anfangs roch es nach trockenem Hals, später manchem dann schon nach System.“ Gestern habe sich das nicht wiederholt.

Eine etwa zehnstündige Aufzeichnung der ersten öffentlichen Sitzung vom 22.9.2022 – einer Expertenanhörung – findet sich hier, ebenfalls die Links zu den schriftlichen Einreichungen der Expert:innen hier.

Insgesamt muss der Ausschuss inhaltlich wirklich erst noch Fahrt aufnehmen.

Nochmal zur Schönfärberei der Bundesregierung

Das Redaktionsnetzwerk Deutschland griff gestern nochmals meine Einschätzung hier im Blog auf, dass die alte Bundesregierung jahrelang systematisch „bewusste Schönfärberei“ bei ihren öffentlichen Aussagen zur Sicherheitslage in Afghanistan betrieben habe und es sich also „nicht um Fehleinschätzungen“ gehandelt habe. „Hätte die Bundesregierung zugegeben, wie prekär die Sicherheitslage in ganz Afghanistan war“, hätte sie Abschiebungen in das Land „nicht mehr begründen können“. Weiter bei RND:

Erschwerend sei hinzugekommen, dass der Vormarsch der Taleban in den Beginn des Bundestagswahlkampfs fiel“, zitierte RND mich weiter. „Dieses Interesse hat alles andere überlagert. Die Bremse wurde erst gezogen, als die Taliban schon an Kabuls Stadtrand standen“, sagte Ruttig. Das habe sich dann „natürlich unter anderem auch auf die Evakuierung nicht nur der afghanischen Ortskräfte, sondern auch anderer afghanischer Verbündeter ausgewirkt, von denen viele hängengelassen wurden.“  (…)

Zusätzlich sei der Prozess der Evakuierungen durch die Personalpolitik des damaligen Außenministers Heiko Maas (SPD) behindert worden. Maas habe damals offenbar Beamte von Aufgaben bei der Evakuierung abgezogen. „Für mich ist das Sabotage.“

Ruttig sagte, er erhoffe sich von dem Untersuchungsausschuss, „dass da tatsächlich aufgedeckt wird, warum die öffentliche Lageeinschätzung so falsch war. Für mich ist die Antwort klar. Aber ich möchte auch, dass die deutsche Öffentlichkeit das gesagt bekommt.“ Er sei aber skeptisch, „ob da wirklich viel herauskommt, weil ja Parteien sowohl aus der Opposition als vor allen Dingen auch die der Ampelkoalition schon Zeichen gesetzt haben, dass das Ergebnis eigentlich so aussehen soll, dass nicht alles umsonst war in Afghanistan“. Ein solches Resultat sei dann aber „nur der Zuckerguss auf die gesamte Schönfärberei“.

Ruttig selbst zog eine verheerende Bilanz des fast 20-jährigen internationalen Engagements in Afghanistan. „Nach dem Zusammenbruch im August 2021 muss man letztendlich sagen, dass nichts erreicht worden ist, weil es nicht bewahrt werden konnte.“ Jetzt leide die gesamte Bevölkerung unter den Taliban, „manche sehr viel mehr, manche weniger. Auch die, die die Taliban unterstützen, leiden ja unter den Ergebnissen des Zusammenbruchs wie der humanitären Dauerkrise.“ Der Kampf ums tägliche Überleben sei sehr viel härter als in den Jahren zuvor. „Es wäre eine Augenwischerei, da jetzt noch irgendetwas Positives herauslesen zu wollen. Das wäre nur eine Selbstrechtfertigung und hätte mit einer realistischen Einschätzung nichts zu tun.“

Meine vollständige Einschätzung hier im Blog.