Hier ein Artikel von mir, der jüngst in zwei Teilen im Online-Magazin „Das Blättchen“ erschien und ausführlich die Lage in Afghanistan nach über einem Jahr erneuter Taleban-Herrschaft resümiert. Er üebrschneidet sich in einigen Passagen mit früheren Veröffentlichungen von mir.

Entlassene Frauen fordern in Kabul ihre Wiedereinstellung.


Sie habe schon immer Burka getragen, wenn sie dienstlich über Land fuhr, erzählt Chatera am Telefon. „Das war meine eigene Entscheidung. Ich kann schwer ertragen, dass mir das jetzt aufgezwungen wird“, sagt sie, und meint damit die Anordnung der Talebanregierung vom Mai, laut der alle afghanischen Frauen in der Öffentlichkeit ab sofort Körper und Gesicht verhüllen müssen. Für Paschtana, die in Kabul für eine NGO arbeitet, ändert sich wenig: „Unsere Eltern waren schon vor der Taleban Moslems, haben darauf geachtet, was ihre Töchter tragen und dass die Frauen sich verschleiern.“

Saleha, Lehrerin in Balch, sagt der taz, viele Frauen unterwürfen sich dem Schleierdekret, weil sie den Taleban „keinen Vorwand liefern wollen, die Schulen zu schließen“. Balch gehört zu den – neun, nach anderen Angaben 13 – afghanischen Provinzen, von insgesamt 34, in der weiterführende staatliche Mädchenschulen weiterhin offen sind. Private Mädchenschulen sollen landesweit ohne Altersbeschränkung offen sein. Auch NGOs berichten, dass ihre Schulen weiter arbeiten können. „Die Mädchen in meiner Heimatstadt Bamian kümmern sich nicht darum, was die Taleban denken“, sagt wiederum Schah Gul. Dann relativiert die frischgebackene Uni-Absolventin jedoch: Weil die neue Herrscher angekündigt haben, sie würden ihre Väter oder Brüder für Verletzungen der Vorschrift zur Verantwortung ziehen, befolgten „viele Mädchen“ sie doch, um ihre Familien zu schützen.

Diese Variante von Sippenhaft gehört zum Instrumentarium, mit dem die Taleban nach dem schmählichen Abzug des Westens und ihrer Machtübernahme im August 2021 ihre Vorstellung einer islamischen Ordnung umsetzen wollen. Dabei wollen sich vom Westen nicht hereinreden lassen. Und auch im Innern erklärten sie jegliche friedliche Opposition, die sich „außerhalb der Scharia“ bewegt, zur „Rebellion“: Seit März gab es keine öffentlichen Proteste von Frauen mehr, die nach der Machtübernahme der Taleban immer wieder in kleinen Gruppen unter Slogans wie „Brot, Arbeit, Freiheit“ auf die Straße gegangen waren und damit die politische Hegemonie der Taleban herausforderten hatten. Viele ziehen sich in Privaträume und soziale Medien zurück und posten dort ihren Protest. Dann protestierten Mitte September Mädchen und ihre Lehrerinnen in Gardes und Tsamkanai in der Südostprovinz Paktia, nachdem dort ihre bis dahin offenen und von örtlichen Stammesführern unterstützten Schulen ebenfalls geschlossen wurden. Ende September gingen in Kabul Mädchen in Unterstützung der protestierenden iranischen Frauen auf die Straße. In beiden Fällen unterbanden die Taleban die Proteste schnell.

Eine junge Kabulerin, Teil der Protestbewegung, sagte, sie nutze den Schleier, „damit ich von den Taleban nicht erkannt und verhaftet werde“.

Zusätzlich verspielten die Taleban die Chance, die Mitarbeiter der alten Regierung für sich zu gewinnen und somit ein halbwegs reibungsloses Weiterfunktionieren des Staatsapparats sicherzustellen. Trotz eines Amnestieversprechen kommt es immer wieder zu Festnahmen, sogar Morden, von denen niemand mit Gewissheit sagen kann, ob da alte Rechnungen aus einem Krieg beglichen werden, den alle Seiten extrem brutal führten – oder ob das die Politik der Talebanführung ist, um möglichen Dissens zu unterdrücken.

Es mehren sich Berichte, denen zufolge die Taleban ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte der Vorgängerregierung und von ins Ausland geflohenen ehemaligen Mitarbeitern westlicher Stellen festnehmen, im ersten Fall, um sie daran zu hindern, sich bewaffneten Widerstandsgruppen anzuschließen. Auch dabei kommt es zu Sippenhaft. Werden die Gesuchten nicht angetroffen, nehmen die Taleban Familienmitglieder als Geiseln oder setzen sie anderweitig unter Druck. Immerhin kommen die Betroffenen in den meisten Fällen nach wenigen Tagen wieder frei. Aber er gibt auch Fälle, wo Menschen „verschwunden“ sind, also offenbar länger festgehalten werden, und von erwiesenen extralegalen Erschießungen.

Die Medien stehen nicht unter voller Taleban-Kontrolle. Die Taleban haben die bisherigen Staatsmedien wie die Nachrichtenagentur Bachtar (BIA), die Kabul-Times und Radio/TV Afghanistan (RTA) übernommen und wieder aktiviert. Eine Reihe unabhängiger Medien kann zwar weiter im Land arbeiten und berichtet zum Teil kritisch, übt nach Warnungen der Taleban aber sichtbar Selbstzensur.

Versammlung talebannaher Islam-Geistlicher in Kabul im Sommer 2002, bei der jegliche Opposition als vogelfrei erklärt wurde.


Insgesamt sorgen die erratische Politik der Talebanführung und der mangelnde gesetzliche Rahmen dafür, dass sich niemand in Afghanistan sicher sein kann, wann unsichtbare rote Linien individueller Taleban-Kämpfer oder -Kommandeure übertreten und Strafen riskiert werden. Gleichzeitig kommt wie bereits während der ersten Herrschaft der Taleban ihre Religions- und Sittenpolizei Amr-bil-Maruf kaum hinterher, alle Verbote durchzusetzen. Die erratische Politik lässt gleichzeitig auch Taleban-Akteuren auf Provinz- oder Distriktebene weiten Spielraum, der in beide Richtungen ausschlagen kann – hin zu sogar noch mehr Repression oder etwa dazu, dass mancherorten weiterführende Mädchenschulen eben doch weiter arbeiten können.

Damit haben die Taleban sich in ein doppeltes Dilemma manövriert, das ihr Regime in eine Legitimationskrise stürzt. Zum einen haben ihre Unterdrückungsmaßnahmen, wie bereits während ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001, in die internationale Isolation geführt. Denn der Westen versagt dem Talebanregime deshalb die politische Anerkennung. Die sogenannten Geberstaaten verhängten Sanktionen und froren afghanische Guthaben im Ausland ein. Dadurch bleiben Entwicklungszahlungen aus, die unter der alten Regierung drei Viertel der Staatsausgaben deckten. In bisher regierungsgeführten Bereichen wie dem Gesundheits- und Bildungswesen sowie bei NGOs fielen seitdem massenhaft Jobs weg. Zudem drängten die Taleban bzw. die Angst vor ihnen viele Frauen aus der Lohnarbeit. Das alles führte in eine humanitäre Krise und einen Zusammenbruch großer Bereiche der Wirtschaft.

Laut UNO verzeichneten seit August 2021 acht von zehn Haushalten deshalb „drastische“ Einkommensrückgänge. Die Armutsquote liegt bei über 90 Prozent, und die Hälfte der Bevölkerung steht vor dem herannahenden Winter weiter am Rande des Hungers. Das seien „mehr Menschen als in jedem anderen Land der Welt“, so Martin Griffiths, UN-Koordinator für Humanitäres, im Juni vor dem Weltsicherheitsrat. Er befürchtet ein ähnliches Szenario zum Jahresende: „Die meisten ländlichen Haushalte werden ihre Nahrungsmittelreserven in diesem Jahr gefährlich früh aufgebraucht haben – wegen der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren.“

Da der Westen diese humanitäre Krise nicht ignorieren kann, hat sich unterhalb der Schwelle einer diplomatischen Anerkennung eine pragmatische Kooperation zwischen den „de-facto-Autoritäten“, wie der Westen die Taleban nennt, und Hilfswerken herausgebildet. Die USA gaben Gelder wieder frei, die über die UNO an ein NGO-Konsortium in Afghanistan – und damit an den Talebanbehörden vorbei – geleitet werden. Das gab es bereits vorher bei der Bekämpfung von Covid-19, der Polio-Immunisierung und griff auch bei der Überwindung der Folgen der Erdbebenkatastrophe im Juni 2022 in Südostafghanistan. Normalisieren die Taleban ihr Verhältnis zum Westen nicht wenigstens teilweise, könnte das zusammen mit der sich verschärfenden zyklischen Dürre zu einer Dauerkrise führen.

Zum zweiten: Finden sie mittelfristig keine Lösungen für die Wirtschaftskrise, könnten sich auch jene Teilen der Bevölkerung gegen sie wenden, die ihnen bisher zugutehalten, dass sie mit ihrem Sieg den Abzug der ausländischen Truppen, den Zusammenbruch der alten Regierung und damit ein Ende des Krieges herbeigeführt haben, oder die aus Angst jetzt noch stillhalten oder sich anpassen. Es ist im Westen viel zu wenig bekannt, welches Ausmaß von Gewalt auch die früheren Regierungstruppen und ihre ausländischen Verbündeten im Kampf gegen die Taleban anwandten und damit große Teile der Landbevölkerung gegen sich aufbrachten.

Millionen Menschen leben bereits seit Jahren in Gebieten unter Talebankontrolle und hatten gar keine andere Wahl als sich anzupassen. „Es gibt keinen offenen Protest gegen die Taleban“, berichtete der Analyst Sahil Afghan Ende 2020, „Aber nicht, weil es nichts zu beschweren gibt, sondern weil die Leute es für zu gefährlich halten.“

Sollten die Taleban dem Wunsch nach mehr Offenheit nachgeben, könnte das aber auch zu Brüchen im eigenen Lager führen. Immerhin hatte ihr Führer Hebatullah Achundsada angekündigt, dass es bei der Umsetzung der Scharia „keine Kompromisse“ geben werde und er schrittweise alle weltlichen Gesetze abschaffen will. Fraglich ist allerdings, wie viele Mitglieder selbst der inneren Talebanführung diesen Kurs mittragen. Sogar unter ihnen wird immer wieder die Forderung nach Wiedereröffnung aller Mädchenschulen laut. Gleichzeitig aber folgen sie bisher weiter der Parteilinie, um die Einheit der Talebanbewegung nicht zu
kompromittieren.

Während die Taleban vor 2001 die Versorgung der Bevölkerung weitestgehend der UN und Nichtregierungsorganisationen überließen, sind heute immerhin Ansätze einer Wirtschaftspolitik erkennbar. Ihre Minister verhandeln mit Vertretern Washingtons und der Weltbank um die Freigabe der eingefrorenen afghanischen Staatsguthaben. Inzwischen wurde in der Schweiz ein Fonds eingerichtet, in den die USA einen Teil der eingefrorenen Gelder überweisen sollen, die über die UN humanitären Zwecken zugeleitet werden. Das ist aber bisher noch nicht geschehen, da die Taleban den al-Qaida-Anführer Aiman al-Sawaheri in Kabul beherbergten, was die USA als Bruch ihres Abkommens mit den Taleban vom Februar 2020 betrachten. Sawaheri wurde Ende Juli durch einen Drohnenschlag der USA getötet. Mit dem deutlich gesteigerten Kohle-Export nach Pakistan, das von der weltweiten Brennstoffkrise hart getroffen wurde, ist den Taleban bei der Einnahmensteigerung aber ein kleiner Coup gelungen. Allerdings stagniert der Handel mit den anderen Nachbarn wie Iran und Zentralasien.

Dafür bekämpfen die Taleban im eigenen Land die Korruption wirksamer als die alte, westlich gestützte Regierung und erhöhten auch dadurch die Staatseinnahmen aus Steuern und Handel. Das Kriegsende erlaubt insgesamt wieder mehr Wirtschaftstätigkeit. Und sie lassen dem Privatsektor, der neben der agrarischen Subsistenzwirtschaft in allen kriegsbedingten Krisen der letzten 40 Jahre das Überleben der Bevölkerung sicherte, freien Raum. Kleinunternehmern erließen sie sogar Steuern. Allerdings fehlt es Unternehmern und Händlern an Kapital und damit oft an Rohstoffen.

Im Privatsektor dürfen auch Frauen weiterhin arbeiten. Denn der Ausschluss der Frauen aus der Arbeitssphäre ist keineswegs total. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) ging die Zahl der arbeitenden Frauen seit vorigem August zwar um 21 Prozent zurück, doch hätten damit noch immer vier von fünf der früher arbeitenden Frauen ein Einkommen – wenn auch die Löhne fallen (viele Unternehmer kommen nicht an Bargeld) und die Inflation zunimmt. Dem Privatsektor lassen die Taleban offenbar freie Hand, solange Frauen nicht mit Männern im gleichen Raum arbeiten. Die meisten Frauen sind laut ILO im Textilgewerbe beschäftigt. Viele arbeiten auch bei Privatbanken.

Den Taleban zufolge arbeiten sogar die meisten der zuvor bei Regierungsstellen beschäftigten 120.000 Frauen wieder, auch dort von den Männern getrennt. Westliche Journalisten bestätigen dies für technische Abteilungen etwa des Finanzministeriums. Allerdings ist unklar, ob die Taleban auch jene Frauen zählen, die sich nur einmal pro Woche an ihrem Arbeitsplatz zum Einschreiben melden müssen, um weiter ihr Gehalt zu bekommen, wie Schugufa, die in Herat bei der Stadt arbeitet, erzählte.

Gleichzeitig wird den Taleban vorgeworfen, dass sie die Auswahl von Studienfächern für Studentinnen eingeschränkt haben. Sie kontern mit der Feststellung, für manche Fachrichtungen hätten sich nicht genügend junge Frauen gemeldet. Klar ist: Die vorangegangenen Einschränkungen haben sicherlich dazu geführt, dass weniger Mädchen studieren wollen (oder sich trauen) und auch Eltern aus Furcht ihre Bewegungs- und Wahlfreiheit einschränken.

Die Hälfte des Taleban-Budgets fließt laut dem Wirtschaftsmagazin The Economist allerdings in den Bereich Verteidigung, obwohl sich das Regime nur marginalen inneren und keinen äußeren Bedrohungen gegenübersieht. Die Talebanführung muss ihre Kämpfer weiterbezahlen, denn sie kann sie nicht demobilisieren, weil die schrumpfende Wirtschaft sie nicht absorbieren kann. Der Gesamtetat von umgerechnet 2,6 Milliarden US-Dollar ist schon mit einem Defizit von 500 Millionen belastet. Offenbar hoffen die Taleban, das Loch durch erhöhte humanitäre und Entwicklungsgelder sowie Steuerinnahmen zu stopfen.

Bisher dominiere in der Talebanführung „noch die Ideologie über Pragmatismus“, schreibt der afghanische Journalist Fazelminullah Qazizai. Oberhand haben die Ultrakonservativen um Hebatullah, wenn auch vielleicht nicht zahlenmäßig. Der pragmatischere Flügel um Vizeregierungschef Mulla Abdul Ghani „Baradar“ und die „Prinzlinge“ Seradschuddin Haqqani und Mulla Muhammad Yaqub wolle „Gott und dem Land“ dienen, wie der afghanische Medienunternehmer Saad Mohseni schrieb, Hebatullah und sein Kreis dagegen allein „Gott“. Haqqani ist der Sohn Dschalaluddin Haqqanis vom sogenannten Haqqani-Netzwerk, einer regionalen Taleban-Untergruppe, die für ihre engen Beziehungen zu Pakistans Geheimdienst ISI bekannt ist und die viele während des Krieges bis 2021 für die terroristische Avantgarde hielten; Yaqub ist Sohn des in der Bewegung fast heiliggesprochenen Taleban-Gründers Mulla Muhammad Omar. Als Innen- beziehungsweise Verteidigungsminister bekleiden sie Schlüsselpositionen und stehen für eine jüngere Generation von Taleban-Führern, die später wohl die Macht übernehmen wird.

Ob und wann die Führungsgruppe um Hebatullah begreifen wird, dass der Ausschluss von Frauen und Mädchen aus weiten Bereichen des öffentlichen Lebens mit der Welt des 21. Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist, bleibt unklar. Woher Ärztinnen und Lehrerinnen kommen sollen, wenn weiblicher Nachwuchs von den Universitäten ausbleibt, ist ihr Geheimnis. Ihre Mitglieder verweigern jeglichen Direktkontakt mit westlichen und sogar den meisten internationalen islamischen Akteuren. Allerdings sind sie weiter deutlich an einer internationalen Anerkennung und einer Aufhebung der Sanktionen interessiert. Mohseni geht davon aus, dass eine Machtübernahme der jüngeren Pragmatiker „wahrscheinlich evolutionär und nicht durch einen Coup“ erfolgen wird.

Einer der Kommandeure der NRF, General Khald Amiri. Foto: NRF.


Trotzdem sitzen die Taleban ein Jahr nach ihrer neuerlichen Machtübernahme mangels einer organisierten Opposition auf absehbare Zeit fest im Sattel. Ähnlich wie alle Vorgängerregierungen sind sie freilich nicht in der Lage, das gesamte Territorium permanent zu besetzen und zu kontrollieren.

Die anhaltenden, wenn auch sporadischen und begrenzten Proteste von Frauen gefährden mangels unterstützender zivilgesellschaftlicher Strukturen deren Herrschaft jedoch nicht. Ebenso gilt das für den zersplitterten bewaffneten Widerstand in Teilen des Landesnordens, mit dem Zentrum im Pandschir- und Andarab-Tal und die Terrorangriffe des örtlichen Ablegers des Islamischen Staates (ISKP), denen eine breitere soziale Basis fehlt. Die bewaffneten Widerstandsgruppen sind wenig populär, da sie ähnliche terroristische Mittel einsetzen wie die Taleban während ihrer Aufstandsphase, auf Fraktionen zurückgehen, die Bestandteil des korrupten politischen Systems vor 2021 waren, und für ihren Ethnozentrismus bekannt sind. Ähnliches gilt für die im Exil entstehenden neuen Parteien.

Die Führung der wohl stärksten bewaffneten Gruppe, der Nationalen Widerstandsfront (NRF), befindet sich mit russischer Duldung in Tadschikistan, aber selbst Russland lässt keine Waffenlieferungen an sie zu. Auch darüber hinaus werden sie von keinem internationalen Akteur aktiv unterstützt. „Weder Russland noch China (oder die anderen zentralasiatischen Staaten) wollen bewaffnete Afghanen, die in Zentralasien an grenzüberschreitenden Kriegshandlungen teilnehmen”, schrieb der US-amerikanische Afghanistan-Kenner Barnett Rubin. „Sie wissen, wie solch eine Situation in den 1980er Jahren Pakistan destabilisiert hat.“ Im Land begrenzt vor allem die allgemeine Kriegsmüdigkeit das Mobilisierungspotenzial des Widerstands. Sie bewog die Bevölkerung in vielen Landesteilen dazu, sich mit der Taleban-Herrschaft zu arrangieren. Fehlende Koordination der Widerstandsgruppen erlaubte es den Taleban bisher stets, konzentriert Kämpfer gegen örtliche Rebellionen einzusetzen. Vor allem ISKP-Anschläge sorgen aber immer wieder für viele zivile Opfer, vor allem unter schiitischen Bevölkerungsgruppen wie den Hasara. Dieses Vorgehen grenzt nach Ansicht einiger unabhängiger Beobachter wie Rubin an Völkermord.

Eine größere Gefahr stellen ethnische Spannungen dar. Nach der Verdrängung von ohnehin im nationalen Führungspersonal der Taleban unterrepräsentierten Nicht-Paschtunen wächst Unmut. Langfristig geht die größte Gefahr für das Taleban-Regime von der Wirtschafts- und insbesondere der drohenden zyklischen humanitären Krise aus, verstärkt durch die Auswirkungen der weltweiten Klimakrise auf die Ökologie Afghanistan.

Afghanen, die durch offenen Widerstand nicht ihr Leben riskieren wollen, bleiben zwei Optionen: das Land verlassen oder sich anpassen und etwas persönlichen Spielraum bewahren. So wie Schah Gul und ihre Freundinnen, die sich zwar verhüllen, aber nicht so, wie die Taleban es verlangen. Ihr Bruder in Bamian, so erzählte Schah Gul, arbeitet inzwischen für die Taleban-Moralpolizei: „Zögernd, weil es keine anderen Jobs gibt.“

Was die in Deutschland oft dominierende Schleierdebatte betrifft, schrieb die aus Afghanistan stammende, in Deutschland lehrende Hochschullehrerin Jasamin Ulfat, der Verhüllungserlass sei zwar die harscheste Maßnahme gegen Frauen bisher, aber „die Schulbildung wegzunehmen und die Bewegungsfreiheit der Frauen einzuschränken ist weitaus schlimmer als ein Schleier. Ein Schleier ist nur sichtbarer als die anderen Einschränkungen.“

Mitarbeit: Sayeda Rahimi, Kabul.
Die Namen der interviewten Frauen wurden zu ihrem Schutz verändert.

Arbeitende Frauen in einer Textilmanufaktur. (Ich nehme an, die Verschleierung ist wegen des anwesenden Fotografen.)