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Die Taleban haben der humanitären und sonstigen Versorgung der afghanischen Bevölkerung einen weiteren schweren Rückschlag versetzt. Mit dem Schwedischen Afghanistan-Komitee (schwed. Abkürzung SAK) musste jetzt eine der größten, effektivsten und im Land angesehensten Nichtregierungsorganisationen „alle seine Aktivitäten in Afghanistan pausieren“. Das gab die Organisation am 19. März 2024 von Stockholm aus per Pressemitteilung bekannt (hier auf Englisch).

SAK-Lehrer für Sehbehinderte. Foto: SAK.


Die Maßnahme sei eine „Reaktion auf ein Dekret des Islamischen Emirats Afghanistans“ (IEA), also des Taleban-Regimes, in dem die „Suspendierung aller Aktivitäten Schwedens“ im Land gefordert wird und das Taleban-Amir Hebatullah Achundsada am 11. Juli 2023 erließ, nachdem zwei Iraker im Juni und im Juli vorigen Jahres in Stockholm Koran-Verbrennungen vorgenommen hatten und die schwedische Polizei zunächst aufgrund der dortigen Rechtslage nicht dagegen vorgegangen war.

„Nach der Beleidigung des Heiligen Korans und der Erlaubnis, den muslimischen Glauben zu beleidigen, befiehlt das Islamische Emirat Afghanistan Schweden, alle Aktivitäten in Afghanistan einzustellen“,erklärte Taleban-Sprecher Sabihullah Mudschahed damals. Die Taleban verlangten zudem, dass die schwedischen Behörden sich offiziell entschuldigen. Mir ist nicht klar, ob das erfolgte.

Bereits im vorigen Juli, unmittelbar nach dem Taleban-Dekret, hatte das SAK einige seiner Operationen „pausieren“ müssen – eine Ausdrucksweise, mit der wohl die Hoffnung verbunden war und ist, dass das nur zeitweilig nötig sei. Der jetzige Schritt scheint zu zeigen, dass die Lage schlimmer ist.

Seit letzten Sommer hatte das SAK Gespräche mit der Taleban-Führung gesucht, dabei – wie in der jetzigen Pressemitteilung – dargelegt, dass es keine Organisation der Regierung sei (es wurde allerdings von der schwedischen Regierung bisher gefördert, neben anderen Gebern) und die Koranverbrennung eindeutig verurteile. Die Organisation betont ferner, dass sie 1980 „als Solidaritätsbewegung in Reaktion auf die brutale Invasion der Sowjetunion und zur Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts Afghanistans“ gegründet worden sei und „seit über 40 Jahren in enger Zusammenarbeit mit der Landbevölkerung und in tiefem Respekt sowohl des Islam als auch der lokalen Traditionen in Afghanistan“ gearbeitet habe. 1980 gegründet, arbeitete sie zunächst mit afghanischen Flüchtlingen in Afghanistan und in Zusammenarbeit mit Mudschahedingruppen auch während der sowjetischen Besatzung in Afghanistan, und konzentrierte sich ab den 1990er-Jahren auf Afghanistan selbst.

Andreas Stefansson, Generalsekretär des schwedischen Afghanistan-Komitees, sagte der norwegischen Webseite Panorama Nyheter zufolge: „Bis vor kurzem konnte das schwedische Afghanistan-Komitee durch die Aushandlung lokaler und regionaler Vereinbarungen große Teile seinerAktivitäten offen halten. Aber das Taleban-Regime hat seinen Ton nach und nach verschärft und wir sind nun gezwungen, den Betrieb einzustellen.“

Die weiteren Gespräche führten aber offenbar zu keinem befriedigenden Ergebnis.

In der SAK-Pressemitteilung heißt es weiter, dass „die Unterstützung für Menschen mit Behinderungen und Projekte der ländlichen Entwicklung bereits ausgesetzt“ worden seien. „Wir sind dabei, unsere Aktivitäten im Gesundheitsbereich an andere Organisationen zu übergeben. Im Bildungsbereich werden unsere Aktivitäten im Rahmen des Verstaatlichungsprozesses des Bildungssystems durch das IEA an die Bildungsbehörden der Provinzen übergeben.“

Rund zehn Prozent aller Schulen in Afghanistan werden noch von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen betrieben. Auch die vorhergehende Regierung hatte versucht, alle Schulen ins staatliche System einzugliedern – und die meisten NROs folgten wohl auch staatlichen Vorgaben wie dem Lehrplan –, aber es fehlte ihr an Geld, die Schulen vor allem in entlegenen Gebieten selbst zu betreiben. Sicherlich waren einige Regierungsoffizielle auch froh, dass es solche Schulen dort gab. Auch den Taleban dürften die Mittel fehlen, alle diese Schulen selbst zu betrieben, aber nicht der politische Wille und die Machtmittel, sie trotzdem zu übernehmen.

Allein 2023 besuchten nach Angaben der Organisation 2,5 Millionen Patient*innen vom SAK unterstützte Kliniken und Krankenhäuser in Afghanistan. Es behandelte 43.000 akut unterernährte Kinder, stattete 18.000 Menschen mit Behinderung mit orthopädischen Hilfsmitteln aus. 20.500 Menschen erhielten eine Physiotherapie, 6.000 Kinder mit Behinderungen Bildung. 123.000 Schüler besuchten SAK-unterstützte Dorfschulen. Unter anderem betreibt das SAK auch das gesamte Gesundheitsangebot für die Bevölkerung in den Provinzen Wardak und Nuristan.

Stefansson sagte weiter: „Bei unseren Kontakten mit den Behörden haben wir deutlich gemacht, dass wir wissen müssen, wer [unsere Projekte] übernimmt – denn wir können nicht einfach weggehen, während die Patienten noch auf dem Operationstisch oder die Säuglinge im Brutkasten liegen. Hier haben wir eine moralische Verantwortung und müssen die Arbeit fortsetzen, bis es eine alternative Lösung gibt.“

„Wir tun unser Möglichstes“, so Stefansson, „um alternative Wege zu finden, um weiterhin Millionen von Menschen zu helfen, die enorme Prüfungen und ein Unterdrückungsregime durchmachen, das sie sich nicht ausgesucht haben. Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft erkennt, dass es trotz der Unterbrechung unserer Aktivitäten weiterhin möglich ist, die afghanische Bevölkerung zu erreichen“.

Human Rights Watch schrieb in einem im Februar 2024 veröffentlichten Bericht, dass Afghanistans Gesundheitssystem durch die Kürzungen der bilateralen Hilfe nach der Taleban-Machtübernahme bereits hart getroffen wurde.

Radio Azadi – der afghanische Ableger des US-Senders Radio Free Europe/Radio Liberty zitierte einen SAK-Angestellten in Ghasni , der sagte, die Suspendierung der Aktivitäten des SAK habe verheerende Auswirkungen auf das tägliche Leben der am stärksten gefährdeten Menschen in Afghanistan. „Unser Krankenhaus hat täglich mehr als 200 behinderten Menschen geholfen. Jetzt warten Hunderte vor den Toren des Krankenhauses, ohne Aussicht auf eine baldige Wiedereröffnung.“ In der Nordprovinz Balch sagte ein anderer Mitarbeiter, dass die Schließung einer Bildungstrainingszentrums ein weiterer Schlag für die Region sei.

Das SAK erklärt weiter, es sei „auch sehr besorgt um die Zukunft unserer fast 7.000 afghanischen Mitarbeiter*innen in 16 Provinzen. Viele von ihnen sind die Alleinverdiener ihrer Familien, und wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, werden Tausende von Familien darunter leiden.“ Auch das SAK war vom Taleban-Arbeitsverbot für Frauen in Hilfsorganisationen betroffen, von dem der Gesundheitsbereich – in dem es bisher ebenfalls tätig war – unter bestimmten Bedingungen aber ausgenommen war. 2022 waren 1020 von 2488 Gesundheitsmitarbeiter*innen der SAK Frauen.

Die Vorsitzende des Norwegischen Afghanistan-Komitees, Liv Kjølseth, das mit 1000 lokalen Mitarbeiter*innen in Afghanistan vertreten ist, sagte – ebenfalls der norwegischen Webseite Panorama Nyheter zufolge – „wenn ein wichtiger Akteur wie das Schwedische Afghanistan-Komitee verschwindet, ist das eine Krise“.

Neben dem Arbeitsverbot für Frauen für die meisten Sektoren, die Hilfsorganisationen bedienen, gibt es weitere neue Einschränkungen für NROen durch die Taleban. Etwa hatte ein namhafter afghanischer Reporter am 15.3.2024 berichtet, dass die Taleban eine neue Richtlinie erlassen hätten, die NROen verpflichtet, einen Vertreter des Wirtschaftsministeriums einzubeziehen, wenn sie Logistik- und Beschaffungsverträge abschließen. Das werden die Organisationen als Einmischung empfinden, die ihren Prinzipien widerspricht, denn solche Maßnahmen können ihre Unabhängigkeit untergraben und sie für Korruption oder Druck anfällig machen – Prinzipien, die die Taleban allerdings nicht respektieren. Aber die Frage ist, ob sich die Organisationen unter den gegebenen Umständen dagegen wehren können.

Von dem kompletten Aktivitätsverbot sind wegen der Koranverbrennungen jedoch nur schwedische Organisationen betroffen, von denen es in Afghanistan aber m.W. neben dem SAK keine weiteren gibt. Die schwedische Botschaft ist geschlossen, und damit finden direkte Programme der staatlichen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit SIDA in Afghanistan nicht statt.

Laut Kjølseth ist das norwegische Komitee dabei, seine Arbeit im Gesundheitssektor für Frauen sowie zur Gewährleistung von Ernährungssicherheit in der Bevölkerung auszuweiten. In der Provinz Paktia werde es demnächst von der norwegischen Regierung gefördert das erste von fünf von Frauen geführten Gesundheitszentren für Frauen und Kinder eröffnen. Dort werde rund um die Uhr ein Gynäkologe und eine Hebamme vorhanden sein. Das Komitee weite außerdem seine Bemühungen zur Ausbildung weiblicher Gesundheitsfachkräfte aus. Mit Mitteln der norwegischen Regierung würden derzeit 310 Studienplätze für verschiedene Gesundheitsberufe ausgeschrieben, beispielsweise für Hebammen und Krankenpflegerinnen.