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Der folgende Text ist eine erweiterte Version meines Artikels für die am 13.4.2024 erschienene Wochen-taz (S. 10), dort sowie online unter dem Titel „Die Spur zum ‚Islamischen Staat’“. Ergänzte Teile stehen wie üblich [in eckigen Klammern].

Szene des IS-Anschlags in Kandahar am 21.3.2024. Foto: Amu TV.


Auch drei Wochen nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall nahe Moskau sind viele Hintergründe nach wie vor unklar. Zwar übernahm die Zentrale des Islamischen Staates (IS) schon am 22. März, dem Tag des Anschlags, die Verantwortung dafür. [In der Erklärung seiner Medienabteilung Amaq war von „IS-Kämpfern“ die Rede, die „Christen“ attackiert hätten. „Sie töteten und verwundeten Hunderte und verursachten große Zerstörung am Ort, bevor sie sich sicher zu ihren Stützpunkten zurückzogen“ – letzteres entspricht nicht den Tatsachen und belegt wohl, dass man in der IS-Zentrale nicht gut informiert war.] Auch ein zweites Statement ihrer Medienabteilung Amaq am Folgetag war so wenig detailliert, dass viele Ex­per­t*in­nen an der Urheberschaft der IS-Zentrale zweifelten.

Zwischen 2017 und 2019 hatte die IS-Zentrale das von ihr kontrollierte Territorium in Syrien und Irak verloren und agiert seither aus dem Untergrund. Der dänische Dschihadismus-Experte Tore Hamming vermutet sie irgendwo im Grenzgebiet des kurdisch kontrollierten Nordost-Syriens und der Südos-Türkei.

 Der Verdacht richtet sich auf eine der sogenannten Provinzen der Gruppe, die in ihren jeweiligen Regionen relativ autonom agieren. Für Russland war im IS bis dahin eine separate Kaukasus-Provinz „zuständig“ [d.h. sie übernahm die Verantwortung für viele Anschläge in Russland], aber dieses Mal geht es um die vor allem in Afghanistan und Pakistan agierende IS-Khorasan-Provinz (ISKP). Khorasan ist eine Bezeichnung für die iranisch-sprachigen Gebiete Zentralasiens. [Eine Aufzählung früherer IS-Anschläge in Russland findet sich hier.]

 Drei Tage nach dem Anschlag verbreitete ISKP über den eigenen Medienflügel al-Azaim ein 30-seitiges Online-Pamphlet [unter dem Titel „Innerhalb des Moskauer Angriffs“, eine kurze Zusammenfassung hier]. Auch das enthalte keine Details zum Moskauer Anschlag. Dieser werde darin zwar ausführlich „gefeiert“, sagt der in Schweden arbeitende afghanische IS-Experte Abdul Sayed der taz, vermeide aber ein direktes Bekenntnis. [Auch Ashley Jackson, Kodirektorin der Forschungsgruppe Centre on Armed Groups mit langer Afghanistan-Erfahrung, sieht darin nur ein „implizites“ Bekenntnis, teilte sie auf dem Kurznachrichtendienst X mit.] Das bedeute jedoch nicht, dass die Gruppe nicht daran beteiligt gewesen sei, so Sayed. Im Pamphlet wird der Anschlag als Rache für den Tod von IS-Kämpfern durch russische Angriffe in Syrien bezeichnet. Russland unterstützt dort das mit Iran verbündete Regime von Bashar al-Assad. Irans und Syriens Regime werden von Schiiten dominiert, die der IS als abtrünnige Muslime betrachtet.

 Das Schreiben geißelt auch die in Afghanistan herrschenden Taleban wegen ihrer engen Beziehungen zu Russland und verhöhnt sie, dass sie ihre Verpflichtung gegenüber den USA nicht erfüllen, von ihrem Land ausgehende Terrorangriffe im Ausland zu verhindern. Das kommt einem Bekenntnis zum Moskauer Anschlag schon sehr nahe.

Auch die US-Geheimdienste sehen den ISKP hinter der Tat. [Das ist deshalb von Gewicht, da die USA die Bedeutung der Gruppe bisher eher niedrig einschätzten – im Gegensatz zu Einschätzungen des al-Qaeda/IS-Sanktionskomitee der UNO, das allerdings zum Teil alarmistische Angaben von Diensten bestimmter Mitgliedsländer verwendet.]

 Bei den vier angeblichen Tätern, die von russischen Behörden mit Spuren schwerer Misshandlungen vor Gericht präsentiert wurden, und weiteren Helfershelfern handelt es sich allerdings um Bürger Tadschikistans, die wohl Gastarbeiter in Russland waren. Niemand in der Ex­per­t*in­nen­sze­ne äußert bisher Zweifel daran, dass die vier Verhafteten mit den Tätern identisch sind. Zudem gab der IS inzwischen [in einer weiteren Publikation, al-Naba] zu, dass die tatsächlichen  Attentäter gefasst wurden „nachdem sie in einem Wald umzingelt worden waren“. Das deckt sich mit russischen Angaben.

[In dieser Publikation heiße es laut der Dschihadismus-Expertin der BBC, Mina al-Lami, auch, die Angreifer seien „beauftragt“ worden und hätten den Angriff „basierend auf dem vereinbarten Plan“ durchgeführt. Dies sei ein klarer Versuch, darauf hinzuweisen, dass die Operation vom IS orchestriert/gelenkt wurde.]

Ein tadschikischer  Kontakt, der sich von Terroristen per Bodycam verbreitetes  Video-Material vom Anschlag ansah, bestätigte der taz, dass sie darin im Dialekt der Landeshauptstadt Duschanbe sprechen.

 Dennoch bleiben Restzweifel. Der in Washington arbeitende Zentralasien-Experte Bakhti Nishanov postete bei X eine Mitteilung des tadschikischen Außenministeriums vom Tag nach dem Anschlag, der zufolge sich zwei der von Russland Beschuldigten seit November in Tadschikistan aufhielten. Seither bleibt Duschanbe diesbezüglich allerdings still. Die Behörden des hochgradig von Russland abhängigen Landes kooperieren mit Moskau. Laut der offiziellen russischen Nachrichtenagentur TASS nahmen sie Ende März neun weitere Verdächtige fest, die mit dem Moskauer Anschlag in Verbindung stehen sollen. [Darunter soll sich auch ein Kirghise befinden; ein Tscheteschen sei in Polizeihaft an den Verletzungen gestorben, die er bei seiner Festnahme erlitten habe. Am 2. April folgte ein zehnter, ebenfalls ein Tadschike. Inzwischen verurteilte Tadschikistans Außenminister Sirojiddin Muhriddin auch die „Folter“ der Verdächtigen als „inakzeptabel“.]

51 Prozent von Tadschikistans Bruttosozialprodukt stammen aus Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten, die meisten davon leben in Russland. Ihre Zahl wird auf mindestens 1,5 Millionen geschätzt. Viele haben inzwischen die russische Staatsangehörigkeit angenommen. Aber sie sind in Russland oft Diskriminierung ausgesetzt. Einige könnten deshalb anfällig für dschihadistische Online-Anwerbung sein.

 Die tadschikischen Anschlagsverdächtigen führen auch zur ISKP-Spur. Der 2015 gegründeten Gruppe schlossen sich zunächst vor allem in Guantanamo radikalisierte Taleban-Kommandeure an[; auch Teile der bis dahin mit den Taleban verbündeten und von ihr beherbergten Islamischen Bewegung Usbekistans schlossen sich an]. Nachdem sie freikamen, lehnten sie die Verhandlungen ihrer Führung mit den USA ab. Fast alle wurden durch Nato-Luftschläge getötet. [Gerüchten zufolge lieferten die Mainstream-Taleban selbst die Hinweise dafür, um die Abtrünnigen loszuwerden. Anfang 2016 zerfiel die ISKP-Führung in eine pakistanische und eine afghanische Fraktion.]

 Übrig blieb der ISKP im Pakistan-nahen Osten Afghanistans [bevor er dort 2020/21 sein Territorium verlor – siehe hier und hier]. Dort kam es zu einem Zustrom von pakistanischen Taleban und Mitgliedern anderer anti-schiitischer Terrorgruppen. Viele davon gelten als vom pakistanischen Geheimdienst unterwandert, wenn auch nicht kontrolliert. [Es gibt die Vermutung, er nutze ISKP gegen die pakistanische Taleban-Bewegung TTP, die als größere Bedrohung gilt. ] Der ISKP schlägt auch in Pakistan zu. Bei einem der größten Anschläge dort in jüngerer Zeit [auf eine Wahlkampfveranstaltung] wurden im Juli 2023 im Distrikt Badschaur 54 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt.

 Seit 2020 wird die Gruppe vom 29-jährigen [nach Taleban-Angaben] afghanischen Tadschiken Sanaullah Ghafari geführt [, Kampfname Schahab al-Muhadscher. Der Sender al-Arabiya zitiert allerdings einen russischen Medienbericht, demzufolge Ghafari Paschtune vom Stamm der Charoti sei. Nach noch anderen Angaben stammt er aus einem Dorf namens Charoti im Distrikt Schakardara bei Kabul, das eine paschtunische Enklave im überwiegend tadschikisch besiedelten Schimali nördlich von Kabull sein könnte.]. Er soll sich in Pakistans Provinz Belutschistan aufhalten. Dort operieren mehrere Separatisten- und Terrorgruppen, unter anderen das iranische Dschaisch ul-Adl (Heer der Gerechtigkeit). Iran macht es für zwei Anschläge um den Jahreswechsel verantwortlich. Ob Dschaisch und ISKP kooperieren, ist jedoch unklar. [Gemeinsam ist ihnen ihre anti-schiitische bzw., anti-iranische Haltung.]

 In Afghanistan gehen die Taleban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 rabiat gegen den ISKP und das salafistische Milieu, aus dem er sich rekrutiert, vor (siehe dieser UNAMA-Bericht, S. 15/16) und schwächten die Terrorgruppe erheblich. [Gerade in den vergangenen Monate, so Experten, flohen viele weitere ISKP-Führer in Ausland. In Afghanistan ging derweil zwischen Januar 2022 und April 2024 die Zahl der ISKP-Anschläge um 94 Prozent zurück, so die Armed Conflict Location Event Database in Uppsala – siehe Grafik.]

Zahl der IS-Anschläge in Afghanistan (Mai 2021-April 2024). Quelle: USIP/ACLED.


Deshalb vermuten viele Expert*innen [z.B. Jackson, siehe z.B. hier], der ISKP weiche auf Anschläge im Ausland aus und rekrutiere dafür gezielt Zentralasiaten [u.a. unter Gastarbeitern in Russland, der Türkei und Europa]. Zuletzt verbreitete er verstärkt dschihadistisches Online-Material auf Tadschikisch. Schon in Syrien, so der Zentralasien-Experte Edward Lemon vom Forschungsnetzwerk Oxus Society, stellten Tadschiken im IS die drittgrößte Gruppe, gemessen an der Bevölkerungszahl der Herkunftsländer.

 Dass der IS mit Hilfe radikalisierter Einheimischer Anschläge im Ausland durchführt, zeigten die Terroranschläge im Jahr 2015 auf die Konzerthalle Bataclan und am Stade de France in Paris. Auch in Deutschland scheinen vom IS beeinflusste Tadschiken  an Anschlagsvorbereitungen beteiligt gewesen zu sein. Entsprechende Verhaftungen gab es im Juli dieses Jahres, davor im Dezember 2023, wegen  des Verdachts auf Attentatspläne auf den Kölner Dom [siehe hier und hier] [und auch schon im August 2020].

[Eine weitere Spur führt in die Türkei. Das US-Außenministerium machte einen wichtigen afghanischen ISKP-Geldbeschaffer aus, der von dort aus operiere. Türkische Sicherheitsquellen bestätigten, dass zwei der in Russland vor Gericht gebrachten Täter sich vorher „kurzzeitig“ in der Türkei aufgehalten hätten, bevor sie zusammen nach Russland gereist seien. Zwei von der Türkei nach Irak überstellte IS-Führer hätten dem dortigen Geheimdienst gesagt, dass sie mit Ghafari über tadschikische ISKP-Mitglieder in der Türkei kommunizierten.]

 Nach der Zerschlagung des IS-Territorialstaats in Syrien und Irak ist dessen Zentrale nun daran interessiert, als Drahtzieher für Anschläge wie jenen in Moskau und damit weiterhin als potenter dschihadistischer Akteur wahrgenommen zu werden. Dafür schuf er 2015 das „Generaldirektorat für die Provinzen“, das neuerdings weltweit für die gesamte Planung und Durchführung von „Auslandsoperationen“ und die Geldbeschaffung für regionale IS-Ableger und Einzelkämpfer verantwortlich sei, so der Dschihadismus-Experte Hamming. Das könnte die Zurückhaltung der ISKP-Medien erklären, sich direkt zum Moskauer Anschlag zu bekennen.

Mina al-Lami von der BBC wies darauf hin, dass der ISKP sich auch nicht zu zwei Anschlägen im Januar bekannt habe, auf die Trauerfeier für einen General der Revolutionsgarden im iranischen Kerman mit 95 Toten und auf eine Kirche in Istanbul, wo ein Mann erschossen wurde. Laut des Experten Sayed werden die Anschläge von Moskau und Kerman auch in einer IS-Erklärung aus Anlass des bevorstehenden 10. Jahrestages der Proklamation des Kalifats [durch den inzwischen getöteten IS-Chef al-Baghdadi] im Juni nicht dem ISKP zugeschrieben.

 Trotzdem, so Ashley Jackson, müsse man weiterhin zwischen ISKP-Aktionen im Ausland und in der Herkunftsregion differenzieren. Anschläge im Ausland würden nicht von den Mitgliedern in Afghanistan geplant und ausgeführt. Die seien „mit den Taleban beschäftigt“. Das belegt auch ein Anschlag in Kandahar, der einen Tag vor dem Anschlag  in Moskau stattfand, bei dem ein IS-Selbstmordattentäter 21 Menschen tötete und mehr als 50 verletzte [die vor einer Bankfiliale anstanden]. Währenddessen werden „wir im Ausland vermehrt zentralasiatische Dschihadisten sehen“, so Jackson weiter. Wir haben solide Analysen über ISKP in Afghanistan und Pakistan. Aber was wissen wir wirklich über ihren Fußabdruck darüber hinaus“ und wie ISKP und die Zentralasiaten „interagieren“. Auch Hamming sagt, für seine Analyse habe er nur „Puzzleteile“.

PS/ Ich empfehle auch den Beitrag zum Thema des geschätzten Kollegen Emran Feroz bei nd-online und von Ruslan Suleymanow im gleichen Blatt.

Steckbrief des US-Justizministeriums zu Sanaullah Ghafari alias Schahab al-Muhadscher.