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Das Folgende wollte ich ja schon längst schreiben. Aber da die besprochene Ausstellung noch bis Ende Juli läuft, schaffe ich es immerhin kurz vor dem bevorstehenden Bergfest…

Die Seidenstraße ist in aller Munde, neuerdings vor allem als Xi Jipings transkontinentales wirtschaftspolitisches Projekt – aber wer hat schon von der Lapislazuli-Straße gehört? Sie begann in den Bergen Badachschans, im heutigen Nordost-Afghanistan, wo an der Südabdachung des Pamir-Gebirges seit Jahrtausenden der wunderschöne, lasurblauen Halbedelstein abgebaut wird – bis heute (dazu unten mehr). Der Abbau bei Sar-e Sang im oberen Koktscha-Tal in Badachschan ist seit 6000 Jahren nachgewiesen.

(Übrigens gibt es auch eine “moderne” Lapislazuli-Straße, eine Art Kopie der Xi’schen neuen Seidenstraße.)

Lasurstein, also Blaustein, ist ein anderer Name des Minerals. Auf Persisch/Dari und Pashto wird er Ladschward genannt.

Im Altertum befand sich ein Ende dieses Handelsweges im Ägypten der Pharaonen. Älteste Importe aus Sar-e Sang wurden aus der 1. Dynastie (um 2980 v. Chr.) nachgewiesen. 1500 Jahre später verwendeten Ägypter bei der Totenmaske Tut-ench-Amuns “afghanischer” Lapis für die Augenumrandungen und die Augenbrauen. Der Handelsweg verlief damals wohl über Iran und Mesopotamien; Lapis vom Koktscha wurde auch in sumerischen Königsgräbern und als Schmuckstein bei Assyrern verwendet. Das taten weiter in Richtung Europa auch die Hethiter.

Es scheint, dass dabei Vertreter der bronzezeitlichen Indus-Kultur (auch Harappa-Kultur genannt, 2800-1800 vuZ) eine, wenn nicht die Schlüsselrolle spielten. Um 2200 vuZ errichteten sie in Schortugai, heute in der Provinz Tachar am Koktscha-Fluss, einen Handelsposten, denn Lapis fand sich dort nur als Perlen, also einer Form, in der der Stein gehandelt wurde (ähnlich wie Eisen, das in Doppelspitzenbarren – sogenannten Schwurschwertern – gehandelt wurde, siehe im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle/Saale). [Ergänzung 14.4.2024: Allerdings heißt es hier: „Lapislazuli wurde [von ihnen] wahrscheinlich aus dem Iran importiert und nicht direkt aus den Minen in Badakhshan.“ Zudem weist Pamir-Forscher Markus Hauser darauf hin, dass es zeitgleich auch eine Lapis-Mine in Badomdara (dem Mandeltal) auf dem Gebiet des heutigen Tadschikistan gab. Und nach dieser Quelle gab/gibt es auch „das wenig bekannte Abbaugebiet der Chagai Hills im südlichen Belutschistan“. Dazu kommen Lapis-Minen westlich des Baikalsees in Sibirien.]

2017 wurde erstmals bei einer in einem bronzezeitlichen Frauengrab im Saalekreis (ebenfalls nahe Halle) gefundenen blauen Glasperle nachgewiesen, dass sie mit Lapislazuli aus Afghanistan gefärbt wurde. Sie ist etwa 3200 Jahre alt.

Auch 2000 Jahre später, im Goldschatz von Hiddensee, um 970/980 von Wikingern gefertigt, auf der Ostseeinsel gefunden und heute im Stralsund-Museum an der Ostsee, findet sich Lapislazuli.

Im Hoch- und Spätmittelalter kam Lapislazuli über Venedigs Orienthandel nach Europa. Die Maler der italienischen Frührenaissance verwendeten das Blau für die Mariengewänder; in Fra Angelicos Gemälden und Giottos Fresken färbten sie den Himmel. Auch das Blau im Kopftuch von Johannes Vermeers “Mädchen mit dem Perlenohrring” verdankt sein Leuchten afghanischem Lapislazuli.

Eine interessante Episode steuerte neulich der britische Guardian bei:

Im Jahr 2014 untersuchten Wissenschaftler den Zahnstein auf den Zähnen einer verstorbenen Nonne, deren Leiche auf einem mittelalterlichen Friedhof in Mitteldeutschland ausgegraben worden war. Der Zahnstein zeigte winzige Flecken von Lapislazuli, der zu dieser Zeit so teuer war wie Gold. (…)

Warum hatte diese sonst anonyme Nonne, die um das Jahr 1100 starb, ausgerechnet Teile dieser seltenen und kostbaren Substanz in ihren Zähnen? Die Archäologen gehen davon aus, dass sie durch ihre Arbeit beim Bemalen illustrierter Manuskripte dorthin gelangten, entweder durch die Vorbereitung des Pigments oder durch das Anlecken eines Pinsels (um ihm eine feinere Spitze zu verleihen), während sie die Manuskriptseiten bemalte.

Lapislazuli wurde auch für höfische Kunst verwendet, die in die Schatz- und Wunderkammern mitteleuropäischer Fürsten – den Vorgängern unserer Museen – aufgenommen wurde, etwa am Hof von Württemberg.

Womit wir in Stuttgart wären: Dort nämlich können Besucher*innen die Lapislazuli-Straße, diesen alten Handelsweg, in der Ausstellung “Stuttgart-Afghanistan” betreten, die Ende Januar im Lindenmuseum des baden-württembergischen Landeshauptstadt eröffnet wurde und noch bis zum 28. Juli läuft, mit einem vielfältigen Begleitprogramm. Auch Kunstwerke der lapislazuli-haltigen höfischen Kunst aus Württemberg werden dort gezeigt.

Mein Rundgang durch die Ausstellung „Stuttgart-Afghanistan“

Die Lapislazuli-Geschichte ist aber nur eines von zahlreichen “Kapiteln” der Stuttgarter Ausstellung. Sie schlägt wohlgeordnet und einladend gebaut einen weiten Bogen durch die Jahrtausende: von den lapishaltigen altägyptischen Skarabäen über die wunderschönen Marmorpaneele und -brunneneinfassdungen des Sultanspalastes in Ghasni vom Anfang des 12. Jahrhunderts über deutsche Beiträge zur kulturellen und auch architektonischen Modernisierung unter Reformerkönig Amanullah (1919-29), bundesdeutsche Kultur- und Forschungstätigkeit während des Kalten Krieges (von dem Afghanistan, seit den 1930er Jahren im Innern weitgehend friedlich, profitierte), die Aquarelle (und ein Ölgemälde) des in Deutschland ausgebildeten Malers Abdul Ghafur Brechna (Highlight: der in Sakko, Schlips und örtlicher Karakul-Mütze Kabul durchradelnde Siemens-Delegierte von 1950, und die Stuttgarter Badachschan-Expedition bis in die Jetztzeit, wenn sich etwa in Stuttgart lebende Frauen aus dem (tadschikischen) Pamir kommentierend zu Wort melden und Badachschan-Aufnahmen von Fotografinnen aus Afghanistan gezeigt werden. Dass deutsch-afghanische Geschichte auch DDR-deutsche Aspekte umfässt, scheint nur ganz am Rande auf. Aber das ist auch nicht Gegenstand dieser Ausstellung.

Das sind alles jeweils extrem spannende “Kapitel” afghanischer, deutscher und afghanisch-deutscher Geschichte, untersetzt mit Material aus der Sammlung des Linden-Museums und Leihgaben, über die der/die Interessierte – auch zu Hause – weiter in Schlüsselepisoden dieser Geschichte(n) einsteigen kann. (Zum Beispiel auch über die Links in dieser Rezension.)

Abdul Ghafur Brechna, „Siemens-Delegierter“. Copyright Breshna Foundation for Culture. Mit freundlicher Genehmigung des Linden-Museums.


Stichwort Ghasni-Marmor

In Afghanistan ist vom Palast Sultan Massuds III (1099-1114) nicht mehr viel übrig. Vor den jüngsten Kriegen, bis in die 1970er/1980er Jahre gab es dort ein 1966 eröffnetes kleines Museum, das, wie viele andere in Afghanistan, in den letzten Jahrzehnten systematisch geplündert wurde (ein sehr guter Artikel zur Geschichte der Ghasni-Marmorpaneele in der New York Times; ein weiterer von Martina Rugiadi, heute beim Metropolitan Museum in New York, die das Thema an die Öffentlichkeit brachte und als Kooperationspartnerin des Linden-Museums auch einige Ausstellungstexte beigesteuert hat, hier). Bei diesen Stücken thematisierten die Ausstellungsmacher*innen auch deren problematische Erwerbsgeschichte. Sie wurden ab 1978 mit staatlichen Mitteln “über den internationalen Kunsthandel” erworben, “ohne nachvollziehbare Dokumentation”, heißt es im Begleitheft Nr. 1 zur Ausstellung. “In friedlichen Zeiten wären sie nicht nach Stuttgart gelangt.”

Die bereits zitierte Rugiadi verweist auch auf die kulturhistorische Bedeutung dieser Stücke, die “auf lokale Traditionen der vorislamischen Zeit zurückgehen” könnten, denn “Ghazni war bis zum 9. Jahrhundert die Hauptstadt der buddhistischen Herrschaftsgebiets von Zabul, und die lokale buddhistische Stätte Tepe Sardar zeugt von einer synkretistischen buddhistisch-hinduistischen Kultur, die in die Vergangenheit zurückreicht.” In Stuttgart ist ein berühmtens Paneel mit der Darstellung eines Affen zu sehen, laut Rugiadi “die einzige narrative Szene, die auf Ghazni-Marmorpaneelen bekannt ist.”

2019 gab das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg ein aus dem Museum von Ghasni geraubtes, illegal erworbenes Marmorpaneel an Afghanistan zurück.

Auch in Afghanistan scheint in Ghasni einiges überlebt zu haben. Im März 2024 ließ das Taleban-Kulturministerium verlauten; siehe auch hier), dass sich die Zahl der Besucher im dortigen, 2019 wiedereröffneten Museum wieder erhöht habe und dort 150 Kunstwerke aus vorislamischer und islamischer Zeit ausgestellt würden, die täglich “Dutzende Besucher” anzögen. Dazu gehören “Stein-, Metall-, Ton-, Fliesen- und Kupferartefakte aus ghasnawidischer, baktrischer, kuschanischer und sassanidischer Zeit.“ Anderswo ist von über 750 Objekten die Rede. 2022 begann die Restaurierung früher beschädigter Exponate.

Bereits 2007 war Ghasni für 2013 zur “Kulturhauptstadt” der 50-Staaten-Organisation der Islamischen Konferenz ernannt worden, aber der Krieg sorgte dafür, dass dort damals nach der Eröffnungsveranstaltung im April (Video hier) nicht viel stattfand (siehe hier; die englische Version des Artikels ist mir “Leere Kulturhauptstadt” übertitelt). Es gab damals augenscheinlich einen etwas amateurhaften Versuch, das dortigen Museum wiederzueröffnen. Einem afghanischen Medienbericht zufolge kaufte der damalige Provinzgouverneur “aus eigener Tasche antike Relikte von den Antiquitätenhändlern der Provinz.” 2014 beschädigten Bombenanschläge der Taleban massiv auch das Museum und eine historische Bibliothek, siehe dieser Bericht und hier (mit Fotos).

Schon im Jahr zuvor hatte das afghanische Parlament kritisiert, dass von 30 zur Restaurierung vorgesehenen historischen Stätten in Ghasni nur zehn fertig waren. Diese Arbeit habe ausschließlich das US-polnische Provincial Reconstruction Team geleistet, während die Regierung keine Hand gerührt habe.

Fragment einer Brunneneinfassung, Ghasni. Foto: DominikDrasdow. Copyright: Linden-Museum Stuttgart. Mit freundlicher Genehmigung des Museums.

Blick auf den ehemaligen Palast des Massud III in Ghasni. Foto: Thomas Ruttig (2005)

Stichwort Amanullahs Modernisierung

Den meisten Deutschen (und Afghan*innen) ist wohl unbekannt, dass nach dem 1. Weltkrieg deutsche „Armutsflüchtlinge“ nach Afghanistan kamen, wo sie als gut – jedenfalls besser als in der Inflationswirtschaft – bezahlte Spezialisten zum Einsatz kamen. 1923 wurde im Kabuler Babur-Garten die deutsche Gesandtschaft wiedereröffnet (dort hatte auch die Niedermayer/Hentig-Mission zur Kaiserzeit residiert, die Afghanistan an der Seite der Mittelmächte in den 1. Weltkrieg ziehen sollte – mehr dazu z.B. in meinem Blog hier und hier). Am 24. März 1924 folgte die Gründung der Nedschat-Oberrealschule, später Amani-Lyzeum und einer der – wegen seines Deutsch-Unterrichts – begehrtesten Schulen des Landes. Aus ihr gingen viele spätere führende Politiker des Landes hervor, vom verstorbenen Ministerpräsidenten unter dem König Dr. Muhammadf Jussuf bis zum sowjetisch gestützten (und später gestürzten) Partei- und Staaatschef Babrak Karmal.

Dar-ul-Aman, in deutschen Quellen oft noch fälschlich als Kabuler “Königspalast” bezeichnet (tatsächlich war er als Parlamentsgebäude vorgesehen – zu diesen Wahlen kam es durch den Sturz Amanullahs nicht mehr), entstand unter führender Mitarbeit des Architekten Walter Harten, an den bis heute in Kabul auch die Harten-Brücke erinnert (örtlich zu “Artal-Brücke” verballhornt – mein Fotoblog darüber hier).

In der Ausstellung wird diese Periode vom Stuttgarter Ingenieur Max Hähnle personifiziert. Er kam nach Afghanistan, um eine Zementfabrik zu errichten. Aber innerafghanische Konflikte – der “Mangal”-Aufstand von Chost – und ein tödlich endendes Liebesdrama in der kleinen deutschen Gemeinde von Kabul setzten dem ein Ende.

Amanullah, König von Afghanistan, und Reichspräsident Paul von Hindenburg im Auto (Im Berliner Lustgarten?)
Amanullah, König von Afghanistan, und Reichspräsident Paul von Hindenburg im Auto (Im Berliner Lustgarten?)

Stichwort bundesdeutsche Kultur- und Forschungstätigkeit

Hier wurden viele Zeitzeugnisse zusammengetragen, Tagebücher, Fotos, Kurzfilme, die mensch sich in bequemen Sesseln ansehen kann. Dort taucht der legendäre Hartmut Geerken auf, Autor, Dichter, Komponist, Filmemacher, Performer und Musiker, der seinen Arbeit von 1972 bis 1979 am Kabuler Goethe-Institut dazu nutzte, auf dem Bibi Maru-Hügel Klanginstallationen aufzubauen. Er organisierte wohl auch die erste Jam Session afghanischer und deutscher Musiker, erstere Virtuosen auf – heute von den Taleban wiedermal verbotenen – traditionellen “afghanischen” (naja, zentral- und südasiatischen) Instrumenten, letztere vertreten von der Krautrockband Embryo. Das war 1976, und es gibt eine Aufnahme davon unter dem Titel “Live in Kabul”. 1978, kurz vor der “Revolution”, gab es wohl nochmal ein solches Konzert am gleichen Ort. Das Album “Embryos Reise”, das auch Aufnahmen aus Afghanistan enthält, erschien 1979. Einer der beteiligten afghanischen Musiker war „der andere (Ustad) Muhammad Omar“.

Quelle: discogs


Ähnliches sah man erst in Kabul erst nach 2001 wieder, im Garten der Foundation for Culture and Civil Society, während der kurzen Blüte auch kultureller Offenheit in Afghanistan (die z.B. mit Konzertverboten schon vor der erneuten Machtergeifung der Taleban endete). 2022 gab es dann aber ein “Rückspiel” afghanischer Musiker mit Embryo in München.

Vor allem präsentiert sie Ausstellung erstmals in großer Breite die Ergebnisse der Stuttgarter Badachschan-Expedition (von Juli 1962 bis Oktober 1963), der größten, die das Museums jemals unternahm (weiterführender Artikel von Annette Krämer, zusammen mit der Arbeitsgruppe „Entangled“ Ko-Kuratorin der Ausstellung). Das ist ebenfalls inklusive fotografischer, filmischer und musikalischer Aufzeichnungen der deutschen Beteiligten, der Stuttgarter Völkerkundler Friedrich Kußmaul (Leiter der Expedition und ab 1971 Direktor des Lindenmuseums) und Peter Snoy sowie des Fotografen Hermann Schlenker (ein weiterführender Artikel zu den 4000 erhaltenen der ursprünglich 15.000 Fotos hier). Zu den afghanischen Teilnehmers gehörte der Ende 2021 verstorbene Linguist Raziq Palwal, später einer der führenden Wissenschaftler an der afghanischen Akademie der Wissenschaften (zunächst: Pashto Tolena).

Die Teilnehmer legten eine große Sammlung afghanischer Gebrauchsgegenstände an, die sie mit dem Kabul-Museum teilten. [Folgender Absatz am 15.4.2024 neugefasst:] Das erhielt 108 Objekte. Ob der Kabuler Teil dieser Sammlung je dort gezeigt wurde, ist unbekannt. Er ist jedenfalls verschollen, wohl ebenfalls Opfer von Plünderungen oder einfach von Zerstörung – oder vielleicht mangelnder Wertschätzung von Alltagskultur. In der jetzigen Stuttgarter Ausstellung wird der Kabuler Teil der Sammlung aus den dortigen Objekten rekonstruiert. Das war möglich, weil Annette Krämer, seit 2005 Leiterin der Orient-Abteilung des Museums, die Liste der Kabuler Objekte in den Feldnotizen im Nachlass Petwer Snoys, eines der Expeditionsteilnehmer, entdeckte. „Damit ließ sich sowohl die Geschichte der verlorenen Kabul-Sammlung erzählen, als auch eine sinnvolle Objektauswahl treffen – denn ganz ähnliche Objekte bildeten einmal eine ‚vollständige‘ Sammlung. Fahim Rahimi hat das dann auch noch kommentiert und die Fotos vom Kabuler Museum ausgewählt“, teilte Annette Krämer dem Autor per Email mit.

Die Badachschan-Expedition habe den Grundstein für die weltweit bedeutende Afghanistan-Sammlung des Linden-Museums gelegt, sagte sie den Stuttgarter Nachrichten. Die dabei gesammelten Objekte werden jetzt kontextualisiert und im Licht ganz neuer Forschungen und Dokumentations-Anstrengungen gezeigt. Aber auch diese Ausstellungsstücke aus Badachschan sind nicht unproblematisch. Die Expeditionsteilnehmer kauften sie der örtlichen Bevölkerung ab. Wer Afghanistan kennt, weiß, wie schwer es Einheimische finden, ausländischen Gästen etwas abzuschlagen. Und die Deutschen zahlten wohl auch gut, für afghanische Verhältnisse. Aber konnten die ursprüpnglichen Besitzer*innen in Badachschan, die zu den ärmsten Provinzen Afghanistans gehört, diese Gegenstände, die sie im Alltag verwendeten, auch schnell wieder adäquat ersetzen? Heute jedenfalls treiben diese Exponate afghanischen Besucher*innen, die ihr Land verlassen mussten, immer wieder Tränen der Erinnerung in die Augen. 

Die Tragetiere der Stuttgarter Badachschan-Expedition 1962/63 werden nach einem Zwischenhalt beladen. Foto mit freundlicher Genehmigung des Linden-Museums.


Noch einmal Stichwort Lapislazuli…

… weil der Handel mit dem Mineral heute natürlich weitergeht. In jüngster, konfliktreicher Zeit bedienten sich Warlords, Taleban und andere bewaffnete Gruppierungen des Lapislazuli-Reichtums. Unter den westlich geförderten, antisowjetischen Mudschahedin mussten Kriegsgefangene in den Minen schuften. Die Ausbeute wurde, meist über Pakistan, ins Ausland geschmuggelt und finanzierte ihren Kampf. Als die Nordallianz unter Präsident Burhanuddin Rabbani und Ahmad Schah Massud 1992 als “Islamischer Staat Afghanistan” an die Macht in Kabul kam, nationalisierte sie die Lapislazuli-Minen und wickelte den Export über die polnische Firma Intercommerce ab. Der soll ihr jährlich 200 Millionen US-Dollar eingebracht haben.

2014 zeitweilig und erneut 2019 übernahmen die Taleban die Kontrolle über Lapis-Minen im Distrikt Keran und Mundschan von Badachschan. Zuvor bereits teilten sie sich die Einkünfte daraus in frontüberschreitenden Abmachungen mit örtlichen, formal regierungstreuen Warlords. Inzwischen dürften sie als neue Herren Afghanistans diese Einkünfte in ihren schmalen Etat einfließen lassen, die wohl weiterhin Kontrakte für die einzelnen Minen an örtliche Unternehmer vergeben.

Dass der Taleban-Bergbauchef der Provinz im April 2022 durch einen Sprengsatz getötet wurde, könnte darauf hindeuten, dass Konflikte um die Lapis-Minen anhalten. Auch die gefährlichen Arbeitsverhältnisse in den Minen dürften sich unter den Taleban kaum geändert haben, wie ein kurzer AFP-Bericht von März 2024 andeutet.

Lapis-Transport in den Bergen Afghanistans.


Stichwort Jetztzeit/Entangled

Die Jetztzeit ist in der Ausstellung vor allem durch die Entangled-Gruppe präsent, die sich 2019 in Vorbereitung der Ausstellung aus interessierten Menschen aus Stuttgart und der Region gebildet hat. Sie erkundete die Sammlungen des Museums, suchte nach Verbindungen zwischen Stuttgart und Afghanistan in Geschichte und Gegenwart und suchte mit aus, welche Stücke in die neue Ausstellung kommen. Persönliche Erinnerungen und Gedanken, die sich in Ausstellungstexten, im Begleitheft und den Audio-Guides (auf Deutsch, Englisch, Dari und Pashto!) finden, geben der Ausstellung zusätzliche, oft durch die Erinnerungen herzzerreißende Authentizität.

Die vielen “Kapitel” der Ausstellung und die davon ausgehenden Anregungen sind so vielfältig, dass mensch sich die Ausstellung mehrmals ansehen sollte. Das ist besonders für Bewohner*innen Stuttgarts oder seiner Umgebung ein gutes Angebot, zumal das Museum die Möglichkeit bietet, per „solidarischem Preismodell“ den Eintrittspreis selbst zu bestimmen (zwischen 20/12/10/1 Euro). Gerade jetzt, bei Aprilwetter, bieten sich solche Besuche an, weil mensch sich für einen Euro in die Teestube oder die Bibliothek setzen kann, die die Ausstellung abrunden. Außerdem fährt ein afghanisches Tee-Mobil zu bestimmten Zeiten durch Stuttgart. Also: Augen auf im Straßenverkehr.

Empfehlenswert auch: Den Mediaguide – Deutsch, Englisch, Dari oder Pashto – für eine erste Einführung zu nutzen (oder an einer echten Führung teilnehmen), und dann Selbst-Entdecken und Wiederkommen.

Gemeinsames Kochen mit dem Entangled-Team. Foto: Harald Voelkl. Copyright Linden-Museum Stuttgart. Mit freundlicher Genehmigung des Museums.


Mehr als eine regionale (Stuttgart-)Ausstellung

Die neuartige und höchst aktuelle Herangehensweise des Austellungsmachens, unter Einbeziehung der Entangled-Gruppe aus der afghanischen und Afghanistan-interessierten Community in und um Stuttgart, wird nicht von allen goutiert. Die örtliche Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten fand sogar, dass die auch durch diese Gruppe repräsentierte Vielstimmigkeit “zum Selbstzweck geraten” sei, “bei dem das Publikum vergessen wurde – und offenbar niemand die Frage gestellt hat, ob und wie die Besucher sich in dieser Überfülle zurechtfinden können.” Aber das gemischte deutsch-afghanische Team tut (trotz seiner englischen Bezeichnung) der Ausstellung nicht nur keinen Abbruch, sondern bereichert sie und zeigt, welches nicht nur in Stuttgart ungenutzte Potenzial die große afghanische Gemeinschaft bei uns darstellen kann.

Die Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten fand in ihrer Rezension auch, wer „ernsthaft“ versuche, sich deren „zahllosen Themen und Aspekten zu nähern, wird hoffnungslos überfordert sein“, die „Perspektive des Publikums wurde vergessen“ und man wisse „nach dem Rundgang auch kaum mehr … über Land und Leute, Kultur und Religion als vorher.“ Hier schließe ich mich hingegen der Autorin eines Beitrags von SWR2 Kultur an, die sagt: “Die Ausstellung selbst ist eine kleine Forschungsexpedition.” Etwas Neugier, nicht nur Vorgesetztes abzuarbeiten, und Fantasie kann man beim Publikum wohl voraussetzen.

Eine konzise Gesamtdarstellung über Afghanistan oder die höchst ambivalenten deutsch-afghanischen Beziehungen sollte mensch im Linden-Museum (oder anderswo) aber nicht erwarten. Sie ist angesichts der Vielfalt schlicht unmöglich bzw. sogar unangemessen.

Möglicherweise sorgt auch der Stuttgart-Bezug im Titel der Ausstellung dafür, dass sie eher als regionalspezifisch wahrgenommen wird. Ich fand bisher keine Rezension in einer überregionalen Zeitung. (Die beste bisher steht in der Stuttgarter Wochenzeitung Kontext, die v.a. online erscheint).

Dabei beleuchtet sie, wie oben gezeigt, zwar mit Beispielen aus Stuttgart und Württemberg, eben eine – nicht zu kleine – Facette des gesamten deutsch-afghanischen Verhältnisses, das durch die vieldiskutierte Beteiligung deutscher Zivilist*innen (ich nenne sie einfach mal zuerst) und Soldat*innen am zwanzigjährigen sogenannten Afghanistan-Einsatz über zwei jahrzehnte in das Bewusstsein großer Teile der deutschen Öffentlichkeit gerückt ist – auch wenn die (dort und hier anhaltenden) Auswirkungen dieses leider wenig glorreich zu Ende gegangenen Krieges von den neueren Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen überschattet werden.

Sogar in die Populärkultur fand das seinen wenn auch häufig immer noch klischeebehafteten, vielfältigen Eingang. Vielleicht sind der geneigten Leser*in die vielen Afghanistan-erfahreren und manchmal -traumatisierten Kommissar*innen oder Täter*innen in Sonntagabend- und anderen Krimis aufgefallen. Oder Ronald Zehrfelds Bundeswehr-Kommandant Jasper im Kinofilm “Zwischen Welten” von Feo Aladag. Oder Matthias Brandt im Kundus-Dokudrama „Eine mörderische Entscheidung“ als Oberst (später General) Klein. Meine Lieblingsstelle findet sich in Andreas Dresens 2008er Film “Wolke 9”, wo in einer Szene die betagten Verliebten vor dem Fernseher sitzen und aus dem Off eine Meldung aus Afghanistan in den Nachrichten verlesen wird.

Insofern sehe ich in dieser Ausstellung auch einen Versuch, dem in unserer schnelllebigen Zeit rapiden Vergessen von Ereignissen, die wie im Fall des Afghanistan-Einsatzes unser Leben mitprägten, ob wir es bemerk(t)en oder nicht, entgegen zu treten. (Zur Zeit findet ja auch gleich eine doppelte parlamentarische Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes statt, siehe hier und hier).

Die Sonderausstellung „Stuttgart–Afghanistan“ im Lindenmuseum Stuttgart läuft noch bis 28. Juli 2024, geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Mit Mediaguide auf Deutsch, Englisch, Dari und Paschto und einem kostenfreien Begleitheft „Ein Himmel voller Drachen“ für Kinder.

„Stuttgart–Afghanistan“, Blick in die Ausstellung, mit der – in Kabul – verschwundenen Sammlung von Alltagsgegenständen aus Badachschan. Foto: Dominik Drasdow. Copyright: Linden-Museum Stuttgart. Mit freundlicher Genehmigung des Museums.