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Innerhalb eines Monats haben die Taleban gestern früh mit Musa Qala das zweite Distriktzentrum in der Südprovinz Helmand erobert. Nach Medienberichten nahmen die Taleban das Amtsgebäude des Distriktgouverneurs, die Polizeistation und andere zentrale Gebäude ein. 25 Soldaten und Polizisten seien getötet worden, viele verwundet, und 50 würden vermisst, so ein Mitglied des Provinzrates. Unter den Verwundeten sei der Distriktpolizeichef.

Auch drei US-Luftschläge, bei denen am Sonntag etwa 40 Taleban ums Leben gekommen sein sollen, konnten die Angreifer nicht aufhalten.

Der Helmand-Fluss bei Laschkargah. Foto: Thomas Ruttig (2005)

Der Helmand-Fluss bei Laschkargah. Foto: Thomas Ruttig (2005)

 

Distriktgouverneur Muhammad Sharif sagte, er habe fliehen müssen, da die Taleban „von allen Seiten“ angriffen. Er sprach von etwa 100 Angreifern. Das ist ein glaubwürdige Zahl – oft sprechen lokale Verantwortliche in ähnlichen Situation von „tausenden“ Angreifern, wohl auch um ihre eigene Niederlage zu begründen. Der Sprecher des Kabuler Verteidigungsministeriums sprach von Pakistani, Arabern und Tschetschenen, die auf Seiten der Taleban kämpften. Auch das dürfte hochgespielt seien, obwohl andere Berichte sagen, dass die Taleban in der Tat für die Kämpfe Verstärkungen aus Quetta (Pakistan) herangeführt hätten.

(Medienberichte hier, von der BBC, von Reuters, den afghanischen Tolonews, von dpa und aus dem britischen Telegraph.)

In Musa Qala wurde bereits seit etwa einer Woche gekämpft (und davor bereits im Mai und Juni) und in afghanischen Medien war vor einem Fall gewarnt worden. Distriktgouverneur Scharif zufolge seien angeforderte Verstärkungen nicht eingetroffen. Aber dazu gibt es widersprüchliche Angaben. Vizeprovinzgouverneur Muhammad Jan Rassulyar sagte hingegen, aus Kandahar seien Verstärkungskräfte eingetroffen. (Es war unklar, ob in der Provinzhauptstadt Laschkargah oder Musa Qala selbst.) Rassulyar hatte allerdings noch am Vortag behauptet, man habe den Taleban schwere Verluste beigebracht und diese seien auf dem Rückzug.

Scharif hatte bereits im Mai von drei Taleban-Gruppen mit je 150 Kämpfern gesprochen, und dass die Polizei hingegen unterbesetzt sei.

Der Distriktgouverneur versucht gegenwärtig, sich mit einer Gruppe von Getreuen durch die Wüste in die Distrikthauptstadt Gereschk im Südwesten durchzuschlagen. Angeblich wird die Gruppe von Taleban verfolgt. Scharif warnt, nach dem Fall von Nauzad und Musa Qala sei nun auch die 170 km weiter südlich gelegene Provinzhauptstadt Laschkargah bedroht.

[geänderter Absatz: Camp Bastion als Tatort gestrichen] Ebenfalls am Mittwoch wurden in Helmand auf einer Militärbasis zwei US-Soldaten – wohl von afghanischen Special Forces-Soldaten – erschossen. Der Hintergrund wurden nicht mitgeteilt, so dass es unklar ist, ob der Vorfall mit den Kämpfen in Musa Qala im Zusammenhang steht. In Laschkargah soll sich noch eine kleine Zahl von Soldaten der NATO-ISAF-Nachfolgemission Resolute Support befinden. Am 27. August meldete die Washington Post, dass der Vorfall sich auf der Special Forces-Basis Camp Antonik, nahe Camp Bastion, ereignete.

Mitglieder des Provinzrats von Helmand machten „schlechtes Management“ bei den afghanischen Sicherheitskräften und Korruption bei der Ämtervergabe in Musa Qala für die Niederlage verantwortlich. Sie befürchten jetzt, dass weitere Distrikte in Helmand fallen könnten. Sie schlugen sogar vor, dass Vizepräsident Dostum, der zur Zeit mehr oder weniger auf eigene Faust in der Provinz Faryab gegen Taleban vorgeht, nach Helmand kommen solle.

 

Die Bedeutung Musa Qalas

Musa Qala liegt im Norden der Provinz Helmand und soll knapp 140.000 Einwohner haben. (Die UN gab 2007 hingegen nur 65.000 an.) Sein Hauptort beherbergte einen wichtigen regionalen Drogenumschlagplatz. (Ich bin nicht sicher, ob hier die Vergangenheitsform richtig ist.) Es war bereits im Februar 2007 einmal von den Taleban gestürmt und dann, im Dezember gleichen Jahres, von britischen und afghanischen Truppen wieder freigekämpft worden.

Es wird zwar als “strategisch” beschrieben, aber seine Bedeutung ist – vor allem im Westen und besonders in Großbritannien – eher symbolisch. Das hängt mit der Geschichte des ersten Falls von Musa Qala zusammen. Dem war ein früher, von Stammesältesten vermittelter Versuch eines Stillhalteabkommens mit den Taleban vorausgegangen, mit dem Ziel kleinere geografische Einheiten in Süd-Afghanistan zu demilitarisieren und damit für Wiederaufbau-Maßnahmen zu stabilisieren. Das Abkommn wurde am 7. September 2006 unterzeichnet und hielt 142 Tage. Das Problem war, dass nicht nur die Briten, die Kabuler Regierungund die Taleban Teil der Abmachung waren, sondern auch US-Truppen in der Gegend operierten, die ein solches Abkommen ablehnten und möglicherweise sogar sabotierten. (Auch in der afghanischen Regierung gab es Gegner.) Zunächst war nach einem Wechsel im Gouverneursamt in Helmand im Dezember 2006 das Abkommen in Turbulenzen geraten, da der neue Amtsinhaber versuchte, Änderungen im Protokoll durchzusetzen, die die Autorität des Stammesrats von Musa Qala eingeschränkt hätten.

Das Abkommen scheiterte jedenfalls endgültig nach einem US-Luftangriff auf Taleban knapp außerhalb (oder vielleicht auch innerhalb) eines wenige Kilometer messenden Radius um das Distriktzentrum von Musa Qala. Die sahen das als Verletzung des Abkommens an und marschierten in Musa Qala ein. (Mehr Einzelheiten in meinem SWP-Papier darüber, hier.)

Dann pochte der damalige Präsident Karzai darauf, dass keines der Distriktzentren des Landes an die Taleban fallen dürfe. Er sah das als Bedrohung der Souveränität seiner Regierung an und zwang die relativ wenigen britischen Truppen, sich auf alle Distrikte Helmands zu verteilen, was aus deren Sicht zu der großen Opferzahl in der Provinz führte – über 400 Soldaten. Die Briten zogen 2014 aus Helmand ab.

 

Die Gesamtlage in Helmand

(Eine Karte von Helmand bei Wikipedia hier.)

Am 29. Juli war den Taleban bereits das Zentrum des westlich benachbarten Distrikts Nauzad (110.000 Ew.; UN: 60.000) in die Hände gefallen. Sie hatten dabei Waffen und gepanzerte Fahrzeuge der Regierungskräfte erbeutet. Die hätten sich in den Süden des Distrikts zurückgezogen (ein afghanischer Medienbericht hier). Eine Gegenoffensive der Regierungskräfte unter Leitung des berüchtigten Polizeichefs von Kandahar, General Abdul Razeq ist bisher nicht erfolgreich mit der Rückeroberung gewesen.

Der nächste Distrikt im Norden, Baghran, befindet sich bereits seit etwa zehn Jahren unter Kontrolle der Taleban, einer von vieren landesweit, von denen das die Zentralregierung zugibt. (Es gibt offiziell 364 Distrikte, wahrscheinlich aber praktisch etwa 400 – deren Zahl ist umstritten, da viele Regierungen neue Distrikte geschaffen haben, die als „inoffiziell gelten“, oft aber funktionieren).

Die New York Times berichtete kürzlich aus Baghran:

Hier, wo die Taleban kaum je wirklich weg von der Macht waren, ist die harsche alte Politik der 90er Jahre noch voll in Kraft. Männer werden ins Gefängnis geworfen, wenn sie ihre Bärte abrasieren, und es Turbankontrollen, ob sich darunter modische Frisuren verbergen. Und es gibt immer noch keine Freiheit für Frauen, zu reisen oder zu lernen. … Die Taliban sind in Baghran keine Aufstandsbewegung, sondern die Regierung… „In Baghran fühlst du dich wie in einem Mini-Emirat der Taleban“, sagte ein 45-jähriger Ladenbesitzer…

Es gibt keinen Mobiltelefondienst in Baghran, ensprechend der Wünsche der Taleban. Stattdessen kommunizieren die Leute mit der auswärtigen Welt über einige Öffentliche Telefonbüros im Basar. … Wahrscheinlich kein anderer Ort in Afghanistan ist mehr unter Taleban-Herrschaft. …

„Du must die richtige Kleidung tragen, und einen Turban, und deinen Bart wachsen lassen, und fünfmal am Tag in der Moschee beten, es vermeiden, Musik zu hören, und unnötig mit den Leuten zu schwatzen. Du kannst abends nicht Freunde zum Kartenspielen treffen“, sagt ein anderer Ladenbesitzer. …

Frauen verlassen das Haus nur mit ihren Ehemännern oder einem männlichen Familienangehörigen, und dann nur, um einen Arzt oder andere autorisierte Ziele aufzusuchen. Es gibt keine Mädchenschulen, und Bildung für Jungen ist ebenfalls limitiert. Die Taleban haben Schulen in Madrassas umgewandelt…

Das Ministerium für die Förderung der Tugend und die Vermeidung des Lasters [Vice and Virtue] ist in Baghran zuück auf Patrouille. Ihre Mitglieder oft Scheren bei sich, um sich sofort mit Frisuren zu befassen, die ihnen übertrieben modisch erscheinen. … Radios sind [hingegen] häufig zu finden; sie werden wegen der Nachrichtenprogramme wie BBC Pashto, Mashal Radio [der afghanische Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty] und sogar Voice of America geduldet.

Baghran sowie Musa Qala und Nauzad gehören zu einem Band von Taleban-kontrollierten Gebieten, das sich vom Osten der Provinz Farah im Westen bis in den Westen der Provinz Zabul, nach Süd-Ghazni und Süd-Paktika erstreckt. Dazu gehören Teile Ghors, Uruzgans und Kandahars. Pasaband in Ghor, Daychopan und Khak-e Afghan in Zabul konnten ähnlich wie Baghran seit 2001 nicht aus der Kontrolle der Taleban befreit werden.

Teile der Distrike Kajaki, Dischu und Baghni (ein inoffizieller Distrikt) befinden sich ebenfalls unter Taleban-Kontrolle. Die Straße nach Kajaki – östlich von Musa Qala – ist seit zwei Monaten unterbrochen, als dort Mitte Juni heftige Kämpfe stattfanden. Das hat u.a. zu erheblichen Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel geführt. Zur selben Zeit hatten bereits auch in Musa Qala Kämpfe stattgefunden. Gekämpft worden war auch in den Distrikten Sangin (südlich von Kajaki) und Nahr-e Seraj, unmittelbar nördlich der Provinzhauptstadt Laschkargah. Das IKRK berichtete von einer erhöhten Zahl ziviler Opfer dabei. Insgesamt sind wegen Sicherheitsproblemen etwa 100 Schulen (von 385) in der ganz Helmand geschlossen, also mehr als ein Viertel.

Insgesamt haben die Taleban in diesem Jahr – wenn auch meist nur zeitweilig – so viele Distriktzentren wie nie eingenommen und sogar Provinzhauptstädte wie Kunduz (und nun vielleicht Laschkargah) bedroht. Eine Übersicht folgt demnächst.