Dieser Artikel erschien 2011 als Kapitel in dem Buch Der Taliban-Komplex: Zwischen Aufstandsbewegung und Militäreinsatz, hg. von Conrad Schetter und Jörgen Klußmann, Campus-Verlag. Ich veröffentliche es hier aus gegebenem Anlass der Diskussionen, wie es nach dem Tod von Mulla Omar mit den Taleban weitergehen wird, da es einen nach wie vor gültigen Einblick in die Entstehungsgeschichte und –gründe sowie Strukturen und Ideologie der afghanischen Taleban gibt. Ergänzungen habe ich wie immer [in eckigen Klammern] hinzugefügt.

Dies ist Teil 3 und Schluss.

(Anmerkung: Die Quellenangaben in den Fußnoten sind Kürzel; vollständige Literaturangaben am Ende des Textes.)

Die weiße Flagge der Taleban mit der Kalema, dem Glaubensbekenntnis.

Die weiße Flagge der Taleban mit der Kalema, dem Glaubensbekenntnis.

 

 

Elastisch und stabil: Organisationsstrukturen und Ideologie der afghanischen Taleban

Teil 3

Thomas Ruttig

 

Der Pakistan-Faktor

Zur Struktur der Aufständischen gehören im weiteren Sinne auch ihr logistischer und politischer Rückhalt in Pakistan. Kontakte in diese Gebiete sowie zu Unterstützern im pakistanischen Establishment liegen in den gespannten Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan begründet, die aus der Teilung Indiens und der Einbeziehung paschtunischer Gebiete in den neugegründeten Staat Pakistan resultierten. Seither unterstützten Regierungen beider Länder immer wieder bewaffnete Aufstandsbewegungen im jeweiligen Nachbarstaat. Dies intensivierte sich unter Präsident bzw. Premier Zulfiqar Ali Bhutto (1971-1977) und Präsident Sardar Muhammad Daud (1973-1978) und insbesondere nach der Errichtung eines Linksregimes in Afghanistan im April 1978 sowie nach dem sowjetischen Einmarsch Weihnachten 1979.

Besonders die Taleban, aber auch die mit ihnen assoziierten Netzwerke Südost- und Ost-Afghanistans sowie die HIG können sich heute in den zu Pakistan gehörenden Stammesgebieten (Federally Administered Tribal Areas) auf ein System extensiver Verbindungen in der lokalen Stammesbevölkerung, in Teilen der pakistanischen Behörden, vor allem in den Streitkräften, ihrem Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) sowie im paramilitärischen Frontier Corps sowie zu verschiedenen islamistischen Parteien stützen. Sie können pakistanisches Territorium für Trainings-, Nachschub- und Ruhezwecke, aber auch als Ausgangsbasis für Angriffe in Afghanistan nutzen. Bisher kaum untersuchte ökonomische Netzwerke dürften ebenfalls von erheblicher Bedeutung sein. Besonders aktive frühere ISI-Offizieren, die sich nun als Befürworter einer islamistischen Agenda betätigen, scheinen dabei eine Art „outgesourcte“ Politikoption darzustellen, die dem „offiziellen“ Militär „plausible Dementierfähigkeit“ gibt. Das Haqqani-Netzwerk scheint dabei seit einiger Zeit einen besonderen Status zu genießen, obwohl Pakistan auch die Kooperation mit der – in den 1990er Jahren zugunsten der Taleban fallen gelassenen– HIG wieder intensiviert hat. Diese Strukturen sind überlebenswichtig für die Taleban. Deshalb liegt ein Schlüssel für eine etwaige politische Lösung in Afghanistan auch in Islamabad.

 

Die „andere” [zweitstärkste] Aufstandsbewegung

Die zweitstärkste Gruppe, die bereits erwähnte Islamische Partei Afghanistans (HIG), ist organisatorisch hingegen völlig eigenständig. Die ehemalige Mudschahedin-Partei, die während des Kampfes gegen die sowjetische Besatzung entstand, ist vor allem in Ost-Afghanistan präsent und verfügt ansonsten über „Inseln“ des Einflusses in weiteren Regionen. Die Beziehungen zwischen HIG und Taleban sind ambivalent. Die HIG erkennt Mulla Omar nicht als ihren Führer an. Allerdings galt zwischen beiden Organisationen zumindest zeitweilig und regional begrenzt, etwa in der Provinz Wardak, ein gegenseitiges Stillhalte-oder Nichtangriffsabkommen. In Nord-Afghanistan waren die Grenzen zwischen Taleban und HIG-Kämpfen sogar noch fließender. Vor allem um das Jahr 2005 kooperierten junge Kämpfer beider Seiten eng miteinander und operierten zum Teil gemeinsam.

Derzeit scheint jedoch die gegenseitige Abgrenzung zuzunehmen. Im Verlauf des Jahres 2010 kam es in den Provinzen Baghlan und Wardak zu Kämpfen zwischen beiden Seiten, die von lokalen Konflikten über territoriale Kontrolle und Steuererhebung ausgelöst wurden. Auch Direktgespräche zwischen hohen HIG-Vertretern und der Regierung in Kabul[1] trübten das Verhältnis der HIG zu den Taleban. Zwar blieben diese Gespräche vorerst erfolglos, mündeten aber doch in eine weniger konfrontative Haltung der HIG gegenüber den Parlamentswahlen im September 2010, die die Taleban strikt ablehnten.[2] In Südost-Afghanistan wurden HIG-Repräsentanten aus Taleban-Gebieten vertrieben.

 

Ausblick

Die veränderte, noch stärker militärisch ausgerichtete US-Strategie gegenüber den Taleban blieb nicht ohne Folgen. In den Kerngebieten des Aufstands in Süd- sowie Südost-Afghanistan führte sie allerdings nicht dazu, dass die Operationen der Aufständischen abebbten. Im Gegenteil: Indikatoren wie die Zahl ihrer Attacken sowie Neurekrutierungen zeigen weiter nach oben. Auch die geografische Reichweite der Aufständischen nimmt weiter zu. Die Operationen von NATO- und Regierungstruppen in Süd-Afghanistan (Marja, Kandahar/Malajat und Arghandab) erzielten nur begrenzte Fortschritte. Im Südosten verfügt das Haqqani-Netzwerk erstmals über feste Stützpunkte auf afghanischem Territorium und baut nun ebenfalls Strukturen einer Schattenregierung auf. Selbst nach US-Einschätzungen sind die Taleban weiterhin in der Lage, ihre Verluste zu kompensieren, sie auch auf mittlerer Kommandoebene zu ersetzen und ihre Befehlskette aufrecht zu erhalten.[3]

Zudem überwindet die Taleban-Bewegung zunehmend auch die Hürde zwischen Paschtunen und Nicht-Paschtunen. Obwohl ihre Kämpfer nach wie vor in großer Mehrheit Paschtunen sind, beginnt sie damit, sich zu einer national-islamistischen Bewegung zu wandeln. Gleichzeitig wird aus mehreren Gebieten Afghanistans berichtet, dass nachrückende Kommandeure oft jünger und radikaler sind als ihre Vorgänger, weniger auf die örtliche Bevölkerung Rücksicht nehmen und auch von dieser schwerer beeinflusst werden können. Dies trifft insbesondere auch auf das Haqqani-Netzwerk im Südosten zu, an dessen Spitze gegenwärtig ein Generationswechsel vom Alt-Mudschahed Dschalaluddin Haqqani zu seinem Sohn Seradschuddin Haqqani stattfindet. Letzterer war für den Dschihad noch zu jung und erhielt in dieser Zeit seine wahhabitisch geprägte Erziehung in Saudi-Arabien. Dadurch ging die Verankerung in seinen Herkunftsstamm tendenziell verloren, ein Umstand, der in zunehmendem Maße in Morden an Stammesführern der Dzadran, die Haqqani junior gefährlich werden könnten, seinen Ausdruck findet. Sollte sich diese Radikalisierung fortsetzen und in eine Übernahme zentraler Schaltstellen durch die neuen Kommandeure münden, könnten die Taleban sich tatsächlich in eine neue Bewegung verwandeln, die dann zurecht als „Neo-Taleban“ bezeichnet werden könnte.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass zumindest die Radikalisierung der Taleban im Rahmen der US-Strategie beabsichtigt ist. Schon in Bezug auf die Sicherheitslage war von hohen US-Militärs nach Beginn der Truppenaufstockung immer wieder zu hören gewesen, dass es „zunächst schlechter“, bevor es dann „besser“ werden würde. Es mag die Hoffnung bestehen, dass jüngere, radikalere, brutalere Taleban-Kommandeure die Bevölkerung letztendlich doch in die Arme der Kabuler Regierung und ihrer Verbündeten treiben werden. Wenn man davon ausgeht, dass die Obama-Regierung relativ kurzfristig – das heißt noch vor der Präsidentenwahl Ende 2012 – einen Großteil ihre Truppen aus Afghanistan abziehen möchte, könnte diese Rechnung sogar aufgehen. Nur wären radikalisierte und von Pakistan gesteuerte Taleban nach dem Truppenabzug eine langfristige Bedrohung für die Stabilität Afghanistans, vor allem wenn die USA – wie beabsichtigt – eine Reihe von Militärbasen in dem Land behalten wollen. Die anhaltende Kohäsion der Taleban, ihre Ausdehnung und teilweise Radikalisierung machen eine Verhandlungslösung weniger wahrscheinlich – die angesichts der beiderseitigen Eskalation der Gewalt jedoch die einzige friedliche Alternative bildet.

(Schluss)

 

Literatur

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–, „Why the West thinks it is time to talk to the Taleban“, The Observer, 28. September 2008

Chandrasekaran, Rajiv, „Petraeus: ‚We’re doing everything we can to achieve progress’”, in: Washington Post, 15. August 2010

Coghlan, Tom, „The Taleban in Helmand: An Oral History”, in: Antonio Giustozzi (Hg.), Decoding the New Taleban: Insights from the Afghan Field, London, 2009

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Giustozzi, Antonio, Between Patronage and Rebellion: Student Politics in Afghanistan, AREU Kabul, Februar 2010, http://www.areu.org.af/index.php?option=com_docman&task=doc_details&gid=753&Itemid=26

–/Reuter, Christoph, The Northern Front: The Afghan insurgency spreading beyond the Pashtuns, AAN Briefing Paper 03/2010, Kabul/Berlin, Juni 2010

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Ruttig, Thomas, „Loya Paktia’s Insurgency: The Haqqani Network as an Autonomous Entity in the Taleban Universe“, in: Antonio Giustozzi (Hg.), Decoding the New Taleban. Insights from the Afghan Field, London, 2009

, The Ex-Taleban on the High Peace Council: A renewed role for the Khuddam ul-Furqan?, AAN Discussion Paper 04/2010, Kabul/Berlin, 2010

-, How Tribal Are the Taleban: Afghanistan’s largest insurgent movement between its
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, AAN Thematic Report 04/2010, Kabul/Berlin, 2010

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[1] Die Delegation unter Leitung des HIG-Vizechefs Ghairat Bahir wurde auch von Präsident Karzai empfangen.

[2] Zur Haltung der Taleban zu den Parlamentswahlen siehe: Ruttig, „A ‚Taleban Election Campaign‘?“, AAN-Blog, 25. September 2010, http://www.aan-afghanistan.org/index.asp?id=1134

[3] Miller, „U.S. military campaign to topple resilient Taleban hasn’t succeeded”