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Drei Nachrichten gab es heute zu Kundus, der ersten Provinzstadt, die die Taleban Ende September 2015 seit ihrem Sturz 2001 vorübergehend einnehmen konnten (mein Bericht hier).

Im ländlichen Kundus (1). Foto.: Thomas Ruttig

Im ländlichen Kundus (1). Foto.: Thomas Ruttig

 

Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok berichtete, dass nach Angaben der örtlichen Handelskammer 400 der bei ihr registrierten 2100 Geschäftsleute seit dem Taleban-Angriff die Provinz aus Sicherheitsgründen verlassen haben – also ein knappes Fünftel. Dazu gehören große Händler aus dem Amu-Flusshafen Scher Chan Bandar an der Grenze zu Tadschikistan; sie hätten ihr Kapital in andere Provinzen und ins Ausland verlagert. Die über den Hafen abgewickelten Exporte hätten sich seit dem Taleban-Angriff halbiert. Die Taleban hielten sich teilweise nur fünf Kilometer von der Provinzhauptstadt entfernt auf, die Telefonverbindungen seien nachts unterbrochen (die Taleban setzen das gegenüber den Betreibergesellschaften durch) und die Zahl der Raubüberfälle habe deutlich zugenommen. Auch die Straße Kundus-Baghlan (und weiter nach Kabul) sei unsicher.

Straße bei Baghlan-e Dschadid. Foto: Thomas Ruttig (2004).

Straße bei Baghlan-e Dschadid. Foto: Thomas Ruttig (2004).

 

In Baghlan ist in den letzten Tagen heftig gekämpft worden. Die afghanischen Regierungstruppen wollten die Taleban aus Gebieten nahe der Provinzhauptstadt Pul-e Chumri – Dand-e Ghori und Dand-e Schahabuddin – vertreiben. Aber offenbar sind sie selbst unter Druckgeraten. Heute soll es ihnen gelungen sein, eine viertägige Belagerung einer ihrer Basen in der Distriktzentrum von Baghlan-e Dschadid (Neu-Baghlan), einem Industriestandort, zu durchbrechen. In Dand-e Ghori war dabei auch ein Mast einer wichtigen Überlandstromleitung aus Tadschikistan gesprengt oder zerschossen worden – Taleban und Regierungstruppen schoben sich gegenseitig die Schuld zu –, so dass in Kabul die Stromversorgung seit zwei Wochen auf halbmast ist. Die Taleban sollen der halbstaatlichen Elektrizitätsgesellschaft angeboten, dass sie ein Reparaturteam durchlassen wollen. Falls das tatsächlich so ist, dürften allerdings die Kämpfe der Reparatur entgegen stehen. (De Breschna Scherkat  meldet gerade, sie wüsste auch nicht, wann die Stromversorgung wieder hergestellt werden kann.)

Außerdem soll Präsident Ghani heute Assadullah Omarchel zum neuen Gouverneur der Provinz Kundus ernannt haben. Eine offizielle Bestätigung stand gestern abend noch aus. Omarkhel gehört zum gleichnamigen Paschtunenstamm, der die Mehrheit im Distrikt Tschahardara (siehe unten) stellt, war bisher der Chef des Hohen Friedensrates in der Provinz und davor Chef des Mudschahedinrates für Nord-Afghanistan. (Diese Information stammt aus einem FAZ-Artikel von September 2009 aus Kundus mit dem aus heutiger Sicht besonders vielsagenden Titel „Die Taleban kommen immer näher“.) Er gehört zu Sayyafs Dawat-e Islami-Partei (früher Ittehad). Interessanterweise hatte er bei der Präsidentenwahl 2009 Abdullah gegen Karsai unterstützt, so dass er möglichweise jetzt als Abdullah-Kandidat in das neue Amt gelangt.

Assadullah Omarkhel, der neue Gouverneur von Kundus(?). Foto. Twitter.

Assadullah Omarkhel, der neue Gouverneur von Kundus(?). Foto. Twitter.

 

AAN-Analyse zur Lage in Kunduz

Mein AAN-Kollege Obaid Ali hatte in einem Bericht zur Situation in Kundus Ende Januar ebenfalls berichtet, dass sich die Taleban weiterhin in den Vororten von Kundus festgesetzt haben. Eine Gegenoffensive in der Umgegend der Stadt und einigen Distrikten habe nicht viel gebracht. Auch behielten die Taleban die Kontrolle über weite Teile von zwei Distrikten, Tschahardara (seit 2008 die Taleban-Hochburg in der Provinz) und Dascht-e Artschi. Kundus’ Einwohner befürchteten einen neuen Taleban-Angriff.

Das Zentrum von Tschahardara war schon einige Zeit vor dem Angriff, am 19. Juni 2015, in die Hände der Taleban gefallen (und nicht zum ersten Mal). Nach einigen Tagen überredeten lokale Älteste die Taleban, den Ort wieder zu verlassen, um eine Gegenaktion der Regierungstruppen zur Erntezeit und die dabei zu erwartende Vernichtung von Teilen der Ernte zu vermeiden. Danach konnten Regierungsangestellte in den Ort zurückkehren. Diese Abmachung hielt bis zum Angriff auf Kundus Ende September; dann flohen die Regierungsangestellten wieder und die Taleban rückten wieder ein.

Bei ihrer Gegenoffensive im Oktober hätten die Regierungstruppen die Kontrolle über das Distriktzentrum und die Verbindungsstraße nach Kundus wieder erlangt, aber die Taleban hielten sich immer noch unweit des Distriktzentrums auf. Die Frontlinie sei nur einen Kilometer „vom Büro des Distriktgouverneurs“ entfernt, und die Taleban hielten die meisten Gebiete des Distrikts.

Im Juni 2015 hätten die Taleban auch das Distriktzentrum von Artschi überrannt und im Distrikt Ausbildungslager eingerichtet, die auch von Taleban aus anderen Landesteilen sowie Kämpfern aus Mittelasien frequentiert würden. Der Distrikt sei auch die Heimat des Taleban-Schattengouverneurs für Kundus, Mullah Salam Barjalai, der auch den Angriff auf Kundus koordiniert habe. Mullah Salam sei in 2010 in Pakistan verhaftet worden, zwei Jahre später aber auf Bitten des vom damaligen Präsidenten Karsai eingesetzten afghanischen Hohen Friedensrates freigelassen worden. Nach seiner Rückkehr nach Kundus 2013 übernahm er dort das Kommando.

Ende Oktober eroberten afghanische Sondereinheiten das Zentrum von Artschi zurück, wurden aber nach zwei tagen von den Taleban wieder vertrieben. Seither verläuft die Frontlinie mitten durch den Ort. Der Hauptbasar, Schulen und Kliniken seien geschlossen, die etwa 60 Kilometer lange Verbindungsstraße nach Kundus unterbrochen, die meisten Bewohner geflohen und die örtliche Verwaltung paralysiert. Trotzdem habe der Kommandeur des regionalen afghanischen Armeekorps die Operation für siegreich abgeschlossen erklärt. Auch die Taleban-Militärkommission für Kundus halte sich im Distrikt auf.

Zudem seien in Nord-Afghanistan insgesamt zunehmend nichtpaschtunische Taleban aktiv, die aus den ethnischen Minderheiten der Usbeken, Aimaq und der (örtlichen sunnitischen) Hasara stammen. Anfangs waren es mehrheitlich Taleban, die aus Pakistan gekommen waren.

Obaid Alis Resümee: Kundus ist immer noch bedroht. Die signifikante Präsenz von Taleban außerhalb des Provinzzentrums ist nicht reduziert worden. Und wenn das sowie die Koordinierungsprobleme zwischen den verschiedenen bewaffneten Regierungskräften nicht bald behoben, der Missbrauch von Regierungsmitteln in Kundus nicht beendet und „die verwickelten Entscheidungsprozesse im Nationalen Sicherheitsrat“ in Kabul nicht verbessert würden, könnte Kundus im Frühjahr wieder zum Angriffsziel werden.

Die Originalfassung findet sich hier.

Ländliches Kundus (2): Lalmi-Felder (regenbewässert) . Foto: Thomas Ruttig.

Ländliches Kundus (2): Lalmi-Felder (regenbewässert) . Foto: Thomas Ruttig.