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Die kriegsbedingte Achterbahn der Gefühle geht für die Menschen in Afghanistan weiter. Nach einer Woche der „Reduzierung der Gewalt“ im Februar und einer darauf folgenden Phase wieder erhöhter Gewalt (und nicht begonnener Friedensgespräche) erklärten die Taleban am vergangenen Sonnabend (23.5.2020) überraschend eine Waffenruhe. Sie gilt für die noch bis morgen (26.5.2020) andauernden drei Feiertage des Id ul-Fitr zum Ende des Fastenmonats Ramadan. In dieser Zeit würden  sie nur auf Angriffe der Gegenseite reagieren, hieß es in der Erklärung [korrigiert: nicht von Taleban-Chef Hebatullah Achunsada]. Noch am gleichen Abend reagierte Präsident Aschraf Ghani mit identischen Instruktionen an die afghanischen Streitkräfte. (deutschsprachiger Pressebericht hier).

Gefangene Taleban verlassen das Gefängnis. Foto: Afgh. Sicherheitsrat.

 

Die neue Waffenruhe ähnelt einer ähnlichen Phase über die gleichen Feiertage 2018 (mein damaliger Bericht hier). Allerdings war dieser neuen Waffenruhe, im Gegensatz zu 2018, offenbar keine geheimen Kontakte vorausgegangen. (Möglicherweise aber hat der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad darauf gedrungen, der wieder in der Region unterwegs war – von öffentlichen Forderungen ganz abgesehen.) Vor dem Ramadan hatten die Taleban allerdings eine Waffenruhe für den gesamten Monat abgelehnt.

Und sie löste auch nicht die selbe Euphorie aus wie 2018 (ein Foto mit afghanischen und Talebanflaggen in diesem Beitrag). Meine AAN-Kollegin Kate Clark schrieb damals, dass die damalige – wenn auch sehr kurze – Waffenruhe den Afghan:innen die Möglichkeit gab, ihr Land nach Jahrzehnte in einem Moment des Friedens zu erleben. Gegenseitige Besuche der Kämpfenden und von Zivilisten auf beiden Seiten in Gebieten, die sie vorher oft jahrelang nicht erreichen konnten (während viele andere das nicht wagten) sprachen von der großen öffentlichen Unterstützung für ein Ende des Krieges. Die damalige Waffenruhe – auch als vertrauensbildende Maßnahme für Friedensgespräche gedacht – zeigte auch, dass alle Seiten in der Lage sind, eine solche durchzusetzen.

Und wie 2018 sieht es danach aus, dass die Taleban diese Waffenruhe – wie auch schon die Woche der „Reduzierung der Gewalt“ im Februar – danach nicht verlängern wollen.

Nach Medienberichten aus Afghanistan hält die jetzige Waffenruhe bisher. Allerdings gab es tödliche Zwischenfälle bis kurz vor ihrem Inkrafttreten. Am Freitag war Abdullah Rassuli, der Polizeichef des Distrikts Tschak (Provinz Maidan-Wardak) während des Gebets in seiner Basis erschossen worden. In Alischeng (Provinz Laghman) wurden vier Zivilisten durch ein Artilleriegeschoss getötet, das eine Wohnhaus traf, und 12 weitere verletzt; die örtliche Bevölkerung beschuldigte die Regierungstruppen und protestierte vor der örtlichen Armeebasis.

Nach der Woche der „Reduzierung der Gewalt“ im Februar, die die Aufnahme von direkten Friedensgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und anderen Kräften „der Republik“ (wie der neue Begriff heißt) und den Taleban ermöglichen sollte – was dann aber wegen Verzögerungen bei einem Gefangenenaustausch nicht eintrat – war die Intensität der Kämpfe wieder stark angestiegen. Das konnte man an den Opferzahlen ablesen.

Nach Angaben der UN-Mission in Afghanistan UNAMA stieg die Anzahl der Zivilopfer im April wieder beträchtlich, auf 380. Darunter sind auch die 24 Toten und 19 Verletzten des Angriffs auf ein Krankenhaus und dessen Geburtsstation am 12.5.2020. Dafür hatte allerdings keine Gruppe die Verantwortung übernommen, und UNAMA enthielt sich jetzt ebenfalls einer Zuschreibung der Urheberschaft.

Die Zahl der zicilen Opfer der Taleban sei im Vergleich zum April 2019 um 25 Prozent gestiegen (und etwa so hoch wie im März 2020 gewesen), die der Regierungstruppen um 38% (und 37% höher als im März 2020). Gesamtmonatszahlen veröffentlicht UNAMA normalerweise nicht, nur Quartalsangaben, so dass ein genauer Vergleich nicht möglich ist. Im ersten Quartal hatte die Zahl der Zivilopfer nach UNAMA-Angaben im Vergleich zum 1. Quartal 2019 um 29 Prozent niedriger gelegen – der niedrigste in einem 1. Quartal seit 2012. Dies war wesentlich auf die Woche der „Reduzierung der Gewalt“ Ende Februar zurückzuführen, als die Zahl der bewaffneten Zwischenfälle um 80-90 Prozent zurückgegangen war.

Der afghanische Innenminister Massoud Andrabi sagte am 18.5., die Taleban hätten seit dem Ende der Woche der „Reduzierung der Gewalt“ am 28. Februar landesweit 3700 Angriffe durchgeführt und sprach von einer „nicht erklärten Frühjahrsoffensive“. Bis zum 2.5. seien es laut dem Nationalen Sicherheitsrats Afghanistans (NSR) 2800 gewesen. Eine westliche Sicherheitsquelle sowie eine unabhängige Beobachterquelle hätten laut Reuters bis zum 1.5. sogar 4500 Angriffe registriert. (Es ist möglich, dass hier zwischen „effektiven“ Angriffen – also mit Opfern – und nicht effektiven Angriffen unterschieden wird.)

Das afghanische Innenministerium erklärte am 23.5., dass die Taleban seit dem Ende der Woche der „Reduzierung der Gewalt“ am 28. Februar 523 Zivilisten getötet und 1144 weitere verletzt hätten. NSR-Angaben vom selben Tag zufolge töteten die Taleban allein während des Ramadan 146 Zivilisten und verwundeten weitere 430. Während der vergangenen sechs Monate hätten sie laut Innenministerium  in 14 Provinzen 110 Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte angegriffen, darunter 14 Schulen, 6 Krankenhäuer, 40 Brücken und Rohrdurchlässe, 15 Strommasten und 5  Telefonumsetzer; außerdem hätten sie in mehreren Provinzen Straßen aufgerissen, um Militärkonvois die Durchfahrt zu erschweren.

Reuters berichtete auch, dass die Verluste der afghanischen Regierungskräfte im Zeitraum seit Ende der Woche der „Reduzierung der Gewalt“ nach (wohl internen) afghanischen Regierungsquellen bei 900 gelegen hätten; im Vergleichszeitraum des Vorjahres hätten diese bei 520 gelegen.

Die Taleban bezeichneten alle auf sie bezogenen Zahlen als übertrieben und „Propaganda“. Reuters berichtete, die Taleban hätten angegeben, dass die Zahl ihrer Angriffe von Anfang März bis zum 15. April mit 537 um 54,7% niedriger als im Vergleichszeitraum 2019 gelegen hätten. Die Zahl der in diesem Zeitraum getöteten und verletzten Regierungskräfte hätte bei 935 bzw. 742 gelegen, ebenfalls mehr als die Hälfte weniger als im Vergleichszeitraum 2019.

Inzwischen scheint auch der stockende Gefangenenaustausch wieder in Fahrt zu kommen. Nach Verkündung der neuerlichen Waffenruhe kündigte Ghani an, weitere 2000 gefangene Taleban frei zu lassen. Auch die Taleban sagten zu, ihre diesbezüglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Damit könnten Friedensgespräche doch wieder in den Bereich des Möglichen rücken (siehe mein taz-Beitrag hier). US-Unterhändler Khalilzad hatte schon am 15. Mai gesagt, ein neues Datum für den Auftakt der Gespräche sei in der Diskussion. Sie hatten eigentlich am 10. März in Oslo beginnen sollen. Das hatte sich aber als unrealistisch erwiesen (siehe mein NZZ-Interview hier).

Inzwischen haben sich auch die fünf Länder, die angeboten haben, als Gastgeber für die sogenannten innerafghanischen Gespräche zu fungieren (neben Norwegen sind das Deutschland, Katar, Indonesien und Usbekistan), eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, dass sie die Waffenruhe und eine baldige Gesprächsaufnahme begrüßen.