Gestern (am 19.10.2020) teilte das afghanische Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten mit, dass der Vizeminister schwedischen Diplomaten in Kabul informiert habe, „dass der zwischenstaatliche [Afghanistan-EU?] Ausschuss die Wiederaufnahme der Rückführung afghanischer Flüchtlinge und die Wiederaufnahme der Rückführungsflüge gebilligt habe und dass die [abschiebenden] Länder in allen Phasen der Rückführung gesundheitliche Vorsichtsmaßnahmen treffen müssten.“

Schon zuvor war bekannt geworden (siehe hier bei der Afghanistan Migrants Assistance and Support Organisation (AMASO) und bei Pro Asyl), dass das Rückführungsrahmen“abkommen“ EU-Afghanistan (genannt „Joint Way Forward“, JWF), dessen Gültigkeit am 6.10.2020 auslief, bis zum Jahresende verlängert worden war. Die jetzige Zustimmung zur Wiederaufnahme der Abschiebungen erfolgte offenbar noch auf der Basis des 2016er „Joint Way Forward“.

Dann muss es neu verhandelt werden. Dies wird in diesem EU-Dokument (item note) vom 3.7.2020 bestätigt.

Daraus geht hervor, dass Afghanistan das „Abkommen“ verlängern, aber bestimmte Inhalte verändern möchte. Aber auch die EU hat ihre Vorstellungen darüber, auf welche Bestimmungen sie nicht verzichten möchte und wo sie ihr eigenes Agieren erleichtern möchte (zitiert nach dieser Übersicht):

– die Mitgliedstaaten sollten weiterhin in der Lage sein, Reisedokumente nach EU-Standard auszustellen, wenn die afghanischen Behörden kein Reisedokument vorlegen;

– die zweiwöchige Frist für die Ausstellung von Reisedokumenten, wenn die Mitgliedstaaten den Nachweis der Staatsangehörigkeit der zurückzusendenden Person erbringen, sollte eingehalten werden.

– Die Möglichkeit, nicht planmäßige Flüge ohne Frequenzbegrenzung durchzuführen, sollte bestehen bleiben.

– Die Visabestimmungen für Begleitpersonal [im deutschen Fall Polizisten, medizinisches Personal] sollten so weit wie möglich aufgehoben werden.

– Die afghanischen Behörden sollten darauf hingewiesen werden, dass der JWF die Rückgabe schutzbedürftiger Gruppen, einschließlich unbegleiteter Minderjähriger, unter angemessener Berücksichtigung humanitärer Aspekte ermöglicht. Wenn möglich, sollte der Umfang des Begriffs der gefährdeten Gruppen begrenzt werden.

– Die Mitgliedstaaten sollten flexibler bei der Übermittlung von Flug- und Passagierdaten an die afghanischen Behörden sein und berechtigt sein können, die Liste der Rückkehrer kurzfristig zu ändern.

In einer gemeinsamen Stellungnahme mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen vom September wiesen die europäischen Caritas-Verbände darauf hin, dass die EU sich „unverhältnismäßig auf die Rückführung und Abschiebungen von Afghanen aus Europa fokussiere“ und die „darunter liegenden Ursachen von Instabilität und gewaltsamem Konflikt in Afghanistan“ vernachlässige. Die Organisationen forderten die EU u.a, auf, Entwicklungszusammenarbeit nicht von einer Erhöhung von Abschiebungen anhängig zu machen – genau das aber, so war in Kabul zu hören, haben verschiedene abschiebende Regierungen als Hebel eingesetzt, um eine Zustimmung der afghanischen Seite zu erreichen.

Die bisherige (Vor-Corona-)Abschiebepraxis – hier mein Bericht zur bisher letzten deutschen Abschiebung im Februar 2020 –­  beruht auf diesem Joint Way Forward. Einzelne Staaten, darunter Deutschland, haben dann noch gesonderte bilaterale „Abkommen“ abgeschlossen, die auch nicht so heißen (hier die damalige Presseerklärung). Im deutschen Fall gab es eine „Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit in Fragen der Migration zwischen Deutschland und Afghanistan“. Darin ist auch die Bildung eines „gemeinsame[n] Umsetzungsausschuss zur Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zwischen Deutschland und Afghanistan zur Zusammenarbeit im Bereich der Migration“ vorgesehen.

Dazu berichtete ich schon im Oktober 2016:

Im übrigen heißt auch das Rahmen-Rückführungsabkommen, das die EU und die afghanische Regierung Anfang Oktober schlossen nicht „Abkommen“, sondern “Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU” (Gemeinsamer Weg vorwärts in Migrationsangelegenheiten…). Der Grund ist, dass die afghanische Regierung die Vereinbarung nicht „Abkommen“ nennen wollte, weil sie es sonst dem Parlament hätte vorlegen müssen, wo die Zustimmung alles andere als sicher wäre. Ganz abgesehen davon, dass das afghanische Parlament schon seit über einem Jahr mangels verschobener und immer noch nicht terminierter Neuwahlen eigentlich gar nicht mehr existiert. (Präsident hat seine Amtszeit per Dekret verlängert, aber einige Abgeordnete fanden das gesetzwidrig und nehmen nicht mehr an den Sitzungen teil, und auch ansonsten erreicht das Haus nur ganz selten das vorgeschriebene Quorum, mit dem über Gesetze abgestimmt werden kann.)

Immerhin wurde das EU-afghanische Dokument im Wortlaut veröffentlicht (hier kann man es lesen) – im Gegensatz zu dem [bilateralen] deutsch-afghanischen.

Hier zu einer ausführlichen (wenn auch zu der Abschiebe-Erklärung nichtssagenden) Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu diesem Thema.

Hier weiterlesen über die derzeitige Sicherheitslage in Afghanistan und einen Offenen Brief (mit Unterschriftensammlung) zur geplanten Wiederaufnahme der Afghanistan-Abschiebungen.