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Hier ab jetzt nach und nach einiger meiner in den letzten Tagen in verschiedenen Medien erschienenen Lageeinschätzungen zu Afghanistan. Einiges überschneidet sich natürlich.

Flüchtlinge im Distrikt Daulatschah (Provinzz Laghman), einer der ersten, der an die Taleban fiel. Foto: Khaama.

Zunächst ein Interview, das heute in der Rhein-Neckar-Zeitung steht:

Abzug aus Afghanistan: „Der Preis für eine verfehlte Politik“

Afghanistan-Experte Ruttig: Bedingungsloser Abzug hat die Tür für die Taliban aufgestoßen – USA arbeiten hinter den Kulissen an LösungNoch 10 Gratis-Artikel diesen Monat. RNZonline Angebote11.08.2021, 06:00 Uhr

Von Benjamin Auber

Heidelberg. Thomas Ruttig (64, Foto: zg) ist Mitbegründer/Ko-Direktor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin. Insgesamt arbeitete er mehr als 13 Jahre in Afghanistan – unter anderem für die Deutsche Botschaft, die UNO und die EU.

Herr Ruttig, ist Afghanistan überhaupt noch zu retten? 

Kommt darauf an, was Sie mit Afghanistan meinen. In Bezug auf die dortige Regierung habe ich deutliche Zweifel. Es gibt auch nicht viele Afghanen, die die Regierung aus vollem Herzen unterstützen, sondern nur, weil sie sie den Taliban dann doch vorziehen. Aber leider liegt das nicht mehr in ihrer Hand. Ich hoffe, dass die Taliban dazu gebracht werden können, ihre Offensive zu stoppen und sich auf eine Verhandlungslösung einzulassen. Dazu muss sich auch die afghanische Regierung bewegen, die sich bisher zu sehr auf die Unterstützung des Westens verlassen und versucht hat, ihn zur eigenen Machterhaltung zu instrumentalisieren. 

Sind aus Ihrer Sicht die Amerikaner die Hauptschuldigen für das Chaos? 

Ja. Das begann unter Donald Trump, der einen Schlussstrich unter den Afghanistan-Einsatz ziehen wollte. Der jetzige Präsident Joe Biden hat nicht mehr die Chance, den Abzug rückgängig zu machen, ohne dafür verantwortlich gemacht zu werden, den Krieg weiter zu verlängern. Trotzdem hat er den Abzug noch einseitig etwas hinausgezögert, wodurch die Situation aber zusätzlich eskaliert ist. Der Fehler liegt aber vorher. Darin, dass die USA zu einem bedingungslosen Abzug bereit waren. Dadurch hat der Westen kaum noch Einflussmöglichkeiten. 

Bleibt jetzt nach dem Abzug des Westens nur noch die Diplomatie übrig?

Die hätte es eher geben müssen. Im US-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 war festgelegt worden, dass es vor dem Abzug eine Verhandlungslösung zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung geben müsse. Aber das wollte die US-Regierung nicht mehr abwarten. Damit stieß sie ohne die Regierung in Kabul zu konsultieren, den Taliban weit die Tür auf, wieder an die Macht zu kommen. Jetzt sehen wir das erschütternde Ergebnis.

Schließen Sie eine militärische Intervention, wie sie Norbert Röttgen (CDU) gefordert hat, also aus? 

Ich bin überrascht, dass ein erfahrener Außenpolitiker so etwas vorschlägt. Vor allem weil die Anti-Taliban-Militärstrategie der letzten 20 Jahre völlig fehlgeschlagen ist. Die Taliban können so zeitweise vielleicht noch gestoppt werden, aber das würde Verhandlungen, die nötig wären, nur noch schwieriger gestalten. Daran arbeiten die Amerikaner, glaube ich, schon hinter den Kulissen. Vermutlich könnten die Amerikaner sogar Präsident Aschraf Ghani fallen lassen, um alle an einen Tisch zu bekommen. 

Ist der Einsatz, auch von der Bundeswehr, mit dem Fall von Kundus im Endeffekt total gescheitert?

Ja, sehr weitgehend. Das Einzige, was in Afghanistan bleibt, sind die Veränderungen im Bewusstsein und im Bildungsstand vieler Afghanen. Auch wenn das nicht auf das ganze Land ausgestrahlt hat. Es hat auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegeben, aber die wurde vom demokratischen Westen enttäuscht, der Demokratisierung dem Krieg gegen den Terror unterordnete. Ein niederschmetternder Kreislauf. 

Was bedeutet die Taliban-Offensive für die afghanische Bevölkerung? 

Sie zahlt den Preis für diese verfehlte Politik. Denn fortgesetzter Krieg bedeutet Vertreibung, Zerstörung ihrer Häuser und Lebensgrundlagen, Verletzung, Verstümmelung und Tod. Verursacht von beiden Seiten. Auch afghanische Regierungstruppen haben Stadtzentren im Süden bombardiert oder mit Artillerie beschossen und nicht nur Taliban getroffen. Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen beide Seiten immer weniger. 

Welche Verantwortung haben wir für die regionalen Ortshelfer, die der Bundeswehr geholfen haben? 

Wir haben eine Verantwortung für alle Afghanen, die mit uns zusammengearbeitet haben und jetzt mit dem Desaster allein klarkommen müssen. Die Ortskräfte sind davon nur ein sehr kleiner Teil. Wenn wir selbst denen nicht helfen wollen, ist das ein katastrophales Signal. Die Bundesregierung wolle prüfen, sie auszufliegen. Aber das dauert so lange, bis dort bald niemand mehr landen kann. Aber Abschiebeflüge will man noch durchführen. 

Ist die Abschiebepraxis nach Afghanistan überhaupt noch haltbar? 

Nein. In das weltweite Kriegsland Nummer eins kann man nicht abschieben und konnte man noch nie. Dass nur Straftäter abgeschoben würden, ist fadenscheinig. Es gab auf den bisherigen Flügen immer Leute, die nicht straffällig geworden waren oder ihre Strafen bereits abgesessen hatten. 

Eine neue Flüchtlingsbewegung droht…

Flüchtlingsbewegungen sind nicht neu. Sie werden jetzt zunehmen. Zunächst fliehen die Afghanen im eigenen Land. Viele Familien versuchen, ins vermeintlich sichere Kabul zu kommen. In die Nachbarländer Pakistan oder Iran zu gelangen, ist viel schwerer geworden. Durch die rigorose europäische Abschottungspolitik haben es seit Januar gerade einmal 1000 Afghanen auf die griechischen Inseln geschafft.


Hier mein Interview mit Inforadio Berlin-Brandenburg gestern (10.8.), in einer Kurzfassung. Das vollständige Audio findet sich hier:

Afghanistan-Experte: Der Westen hat nicht mehr sehr viel Einfluss

Nach dem Rückzug der USA und ihrer Verbündeten sind die Taliban auf dem Vormarsch – die afghanische Regierung und Sicherheitskräfte scheinen dem nur wenig entgegensetzen zu können. Auch die Nachbarstaaten Iran und China greifen nicht ein – vor allem aus Eigennutz, sagt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network.

Afghanistans Nachbarn, vor allem China, der Iran und Russland, hätten ihre Beziehungen zu den Taliban normalisiert, so Ruttig. Dahinter stecke vor allem Eigennutz, denn eine der zentralen Gefahren gehe vom sogenannten „Islamischen Staat“ aus, den man gemeinsam bekämpfen will. Pakistan nehme eine Sonderrolle ein – das Land gelte als „Schirmherr“ der Taliban, auch wenn die Führung dies abstreitet.

Die Taliban können sich derzeit quasi aussuchen, wessen Gesprächsangebot sie annehmen, so der Afghanistan-Experte. Die Chancen der westlichen Verbündeten seien nicht allzu groß: „[Der Westen] hat nicht mehr sehr viel Einfluss“, so Ruttig. „Denn er hat 20 Jahre lang versucht, die Taliban militärisch zu besiegen. Er hat das nicht geschafft und ist dann um 180 Grad umgeschwenkt und hat auf Verhandlungen gesetzt.“ Es verblieben nur noch wenige Hebel – beispielsweise Entwicklungshilfe. Hier ist der Westen stark, Afghanistans Nachbarn jedoch eher schwach aufgestellt.

Die Taliban sind weiterhin konservativ und islamistisch aufgestellt und setzen sich aus vielen lokalen Netzwerken zusammen, so der Co-Direktor. Rekrutiert werde in der Verwandtschaft oder im Stamm. In Afghanistan herrsche derzeit Angst, wie das Land aussehen wird, sollten die Taliban an die Macht gelangen. Aber, so Ruttig: Die Milizen haben in den vergangenen 20 Jahren verstanden, dass sie ihre Macht nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung und internationale Gemeinschaft durchsetzen können. Man könne von ihnen eine „gewisse Mäßigung“ erwarten.


Zitat bei dpa (7.8.)

Im Moment sehe es so aus, als ob die Taliban schneller vordrängen als von allen erwartet, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network zur Deutschen Presse-Agentur. „Die US-Truppen haben noch nicht einmal vollständig das Land verlassen, da greifen sie schon Provinzstädte an.“

Es sei „bemerkenswert“, dass Zaranj am Freitag wohl kampflos fiel. „Nun da Sheberghan im Gegensatz dazu bei heftiger Gegenwehr fällt, sollte niemand mehr die militärischen Fähigkeiten der Taliban unterschätzen“, sagte Ruttig weiter. Immerhin würden sie zeitgleich in vielen Regionen angreifen. „Bis Kabul aber ist es trotzdem noch ein langer Weg.“

Zitat bei dpa (8.8.):

Der Verlust solcher kleinerer Provinzhauptstädte sei „für die Regierung in enormer Prestigeverlust, aber noch zu verschmerzen“, meint der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Der Fall von Kundus hingegen „wiegt schwerer“. Er könnte den Weg in die Hauptstadt öffnen, nach Kabul.

Zitat im Tagesspiegel (9.8.)

Auch nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig ist der Fall von Kundus ein wichtiger Erfolg für die Taliban. „Sie haben jetzt von dort und von Süd-Afghanistan aus die Option, auf Kabul zu marschieren“, sagte Ruttig dem Tagesspiegel. Sie könnten aber „auch darauf hoffen, dass die Hauptstadt – wie andere Städte – mehr oder weniger kampflos an sie fällt und dann eine politische ,Lösung’ diktieren“.

Zitat in der Berliner Morgenpost (9.8.)

Man müsse allerdings die Frage stellen, ob die Taliban von Kundus überhaupt auf Kabul marschieren wollten oder müssten. Südlich der Hauptstadt kontrollieren sie schon seit langem die Provinzen Wardak und Logar gleich hinter dem Stadtrand. Sie könnten aber auf den Kollaps der Regierungstruppen spekulieren, die in den gefallenen Städten kaum Gegenwehr geleistet hätten, sagt Ruttig.


Interview mit Kleine Zeitung (Österreich, 11.8.):

Experte: „Die Taliban sind jahrelang unterschätzt worden“

Vor 20 Jahren stürzten die USA das „Emirat“ der Taliban, die Osama bin Laden in Afghanistan Unterschlupf boten. Jetzt sehen sie ihre Stunde gekommen.

Dass der Abzug der USA aus Afghanistan für ein Machtvakuum sorgen würde, war klar. Doch das Tempo, mit dem derzeit die radikal-islamischen Taliban eine Stadt nach der anderen überrennen, hat doch viele überrascht. In den nächsten Wochen könnte, so fürchten viele, sogar die Hauptstadt Kabul fallen – oder die Regierung am Schluss vielleicht sogar kampflos aufgeben. „Das würde bedeuten, dass wieder ausschließlich bewaffnete Gruppen an die Macht kommen“, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

Die Taliban seien über die Jahre immer unterschätzt worden. „Die meisten Menschen assoziieren damit eine hinterwäldlerische Truppe bärtiger Islamisten. Das mag teilweise stimmen. Aber sie sind auch hochgerüstet, werden von Pakistan gut beraten und haben es geschafft, sich als Alternative in vielen Gebieten anzubieten – wenn auch mit Gewalt“, sagt Ruttig, Co-Direktor der Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network.

„Die Taliban betrachten sich als legitime Regierung und besteuern alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Gebieten, die sie kontrollieren. Dazu kommen Spenden von Privatpersonen und vielleicht auch Regierungen in der islamischen Welt

Die Zentralregierung in Kabul sieht sich von den Taliban bedroht und wirft den USA vor, zu rasch abgezogen zu sein. Aus Washington hieß es zu solcher Kritik gestern lapidar, dass jetzt die afghanische Führung selbst für ihr Land verantwortlich sei. Haben die USA Afghanistan im Stich gelassen? Afghanistan-Experte Ruttig sieht die Lage differenziert: „Biden hat schon seit Jahren klargemacht, dass er den Afghanistan-Einsatz ablehnt, weil er zu teuer war und man wenig erreichte. Aber man hätte den Abzug auf alle Fälle besser planen können.“ In den Gesprächen der USA mit den Taliban sei ursprünglich vereinbart worden, dass es einen Abzug erst dann gibt, wenn die verschiedenen Gruppen in Afghanistan Fortschritte bei der Suche nach einer Beendigung des Krieges machen. „Und das ist ja eindeutig nicht der Fall.“

Dass die Streitkräfte der afghanischen Regierung von den Taliban so leicht überrannt werden, überrascht den Experten wenig: „Der Aufbau der afghanischen Truppen hat einfach nicht funktioniert. Armee, Polizei und der Geheimdienst sind hochgerüstet, haben 300.000 Mann, und trotzdem laufen ihre Kämpfer einfach weg, wenn die Taliban kommen. Das bedeutet, dass die Moral niedrig ist.“

Dazu beigetragen habe der zu rasche Abzug der Nato-Truppen, aber auch die afghanische Regierung selbst und die Korruption im Land: „Viele sind einfach nur deshalb als Soldaten bei der afghanischen Armee, um Geld zu verdienen und durchzukommen, und hoffen, sie kommen am Kämpfen vorbei. Einige sind eigentlich den Warlords in den Regionen loyal und nicht der Regierung, die viele Probleme bis heute nicht einmal ansatzweise hat lösen können.“

Finanzieren können die Taliban ihren Vormarsch aus dem Drogenhandel – aber nicht nur: „Die Taliban betrachten sich als legitime Regierung und besteuern alle wirtschaftlichen Aktivitäten in den Gebieten, die sie kontrollieren. Dazu kommen Spenden von Privatpersonen und vielleicht auch Regierungen in der islamischen Welt“, sagt Ruttig. 

Die Afghanen haben während der Präsenz westlicher Truppen und Hilfsorganisationen gesehen, dass sie sich mehr demokratische Mitsprache und Bildung für ihre Kinder wünschen, doch nun geht es für sie erneut ums nackte Überleben. „Nach 40 Jahren Krieg wünschen sich viele einfach nur, dass jemand wieder Ruhe herstellt – selbst wenn es die Taliban sind. Dem männlichen Teil der Bevölkerung sind Frauenrechte dann nicht so wichtig.“


Zitat bei dpa (9.8.)

Werden nun hunderttausende Menschen aus Afghanistan versuchen, Zuflucht in Europa zu finden?

Eine zunehmende Fluchtbewegung gebe es längst, sagt Experte Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Viele versuchten, auf legalem oder illegalem Wege aus dem Land zu kommen oder wenigstens ihre Familien vor einem möglichen Taliban-Sieg zu retten. Die Menschen in Europa und vor allem Deutschland bemerkten dies aber kaum wegen einer «maßgeblich von der deutschen Bundesregierung» betriebenen Abschottungspolitik, sagt Ruttig. Diese führe dazu, dass es Afghanen kaum mehr nach Europa schafften und wenn, dann höchstens auf die griechischen Inseln. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kamen bis Ende Juni 1002 Afghanen nach Griechenland. Auch in die Nachbarländer zu gelangen, sei für Afghanen viel schwieriger geworden. «Die meisten Afghanen werden Flüchtlinge im eigenen Land», sagt Ruttig.


Hier ein Zitat in einem Beitrag auf der ZDF-Webseite zum Thema Ortskräfte und Gespräche Bundesregierung-Taleban zu diesm Thema:

Die Zusicherung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem tausende Ortskräfte um ihr Leben fürchten und teils verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen. „Es ist gut zu hören, dass sich die Taliban dazu bekennen“, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig dem ZDF.

Er glaube durchaus, dass die Anführer der Taliban die Sicherheitsgarantie auch umsetzen wollen, bezweifle aber, dass sie es können: „Die Taliban sind nicht in der Lage, all ihre Leute wirklich bis ins letzte zu kontrollieren.“ 


Für Fernseher:

Hier ein Beitrag bei Arte, in dem ich auftauche.

Länger in einer MDR-Dokumentation, die auch in der ARD-Mediathek verfügbar ist.