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Hier eine deutlich erweiterte Variante eines Textes, den ich für die Wochenend-Ausgabe der taz vom 16./17.10. schrieb (online hier). Der Text erschien dort unter dem Titel „Angst und Armut in Afghanistan: Brutalstmögliche Unfähigkeit“ und mit der Unterzeile „Sie behaupten, ‚Ordnung zu schaffen’. Tatsächlich stürzen die Taliban das geschundene Land jedoch täglich tiefer ins Chaos“.

Beides hätte ich so nicht formuliert, und Titel und Unterzeile entspreche auch nicht dem Tenor meines Textes – denn das deutet auf die Taleban als alleinige Verursacher der gegenwärtigen multiplen Krise in Afghanistan, während westliche De-facto-Sanktionen und die erneute Dürre ebenso dazu beitragen (so wie die gescheiterte westliche Politik überhaupt erst die Rückkehr der Taleban an die Macht ermöglicht hat). Natürlich machen die Taleban es einem auch sehr einfach, auf sie als Schuldige zu zeigen. Aber das widerspiegelt die Situation nicht hinreichend.

Auch die Wahl des Wortes „brutalstmöglich“ finde ich falsch. So schlimm, wie es auch ist – auch renommierte Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch vermeiden es bisher, von „systematischen“ Menschenrechtsverletzungen durch die Taleban zu sprechen. Shaharzad Akbar, die ins Exil gegangene Chefin der Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC), tweetete am 2. Oktober, dass es „unklar“ sei, ob Berichte über „illegale Festnahmen, Folter und gezielte Morde“ durch die Taleban „Taleban-Politik ist oder die Unfähigkeit, ihre Kämpfer und von ihnen freigelassene Häftlinge zu kontrollieren.“ M.E. haben wir es hier noch nicht mit der systematischen, totalen und umfassenden Vorgehen gegen Oppositionelle zu tun, wie sie in Belarus, Burma (Myanmar) oder sogar Nikaragua existiert. Allerdings ist der Ausschluss von Frauen und Mädchen aus dem Bildungswesen weltweit einzigartig und empörend. Ganz abgesehen davon, dass es kontraproduktiv ist: Wenn die Taleban darauf bestehen, dass Mädchen nur von Lehrerinnen unterrichtet werden und Patientinnen von Ärztinnen behandelt – woher sollen dann die Lehrerinnen und Ärztinnen kommen?

Auch gibt es weiterhin zahlreiche Nischen und Freiräume, die mutige Afghan:innen und ausländische Unterstützer:innen nutzen. Einige Beispiele stehen im Text, andere kommen nach und nach in der Berichterstattung hoch, etwa was Bemühungen betrifft, Mädchenbildung wieder in Gang zu kriegen – hier eine Initiative in Kandahar. Ein wichtiges Beispiel ist – und darauf haben mich nach Verfassen des taz-Textes meine AAN-Kolleg:innen hingeweisen – dass es, im Unterschied zu Afghanistan vor 2001, noch ein gewisses Maß an Medienfreiheit gibt. Ja, es hat schlimme Taleban-Übergriffe auch auf Journalisten gegeben, Journalist:innen sind nicht mehr an ihre Arbeitsplätze gelassen worden, und viele (Print-)Medien mussten bereits aufgegeben, v.a. weil sie ihre Druckausgaben nicht mehr bestreiten können). Das hängt aber v.a. mit der Tatsache zusammen, dass sie bisher vom Ausland alimentiert wurden und sowieso kaum jemand gedruckte Zeitungen kaufte. (AAN hatte ein paar „Soliabos“.) Die meisten Afghane:innen sind schon seit Jahren online unterwegs. Im afghanischen Fernsehen gibt es weiter Moderator:innen, viele – auch kritische – Medien sind weiter online aktiv, berichten auch über die Taleban kritisch und stellen ihren Vertretern kritische Fragen, wenn sie auch, wie Tolo TV, ihre Musiksendungen eingestellt haben. Vieles an Zurückhaltung in den Medien sehen meine Kolleg:innen als Selbstzensur, weniger als Ergebnis direkter Taleban-Eingriffe. Allerdings engen auch neue Vorschriften der Taleban, die ein hinderliches Genehmigungsregime für die Berichterstattung eingerichtet haben, den Spielraum der Medien ein.

Sakina Amiri war die letzte Journalistin bei der tageszeitung Etilaat-e Ruz in Kabul. Nach dieser Konfrontation mit Talebankämpfern, die ihre Kleidung bemängelten, floh sie ins Ausland. Foto: Zaki Daryabi – ihr ehemaliger Chefredakteur, der inzwischen auch das Land verlassen hat.

Hier nun der Text. Ergänzungen, die nicht in meinem ursprünglichen Text standen, wie immer [in eckigen Klammern]:

Regierungsunfähige Sieger

Unter den Taleban und durch Quasi-Sanktionen bricht Afghanistans Wirtschaft ein. Es droht fast totale Armut

[Zwei Monate nach der Machtübernahme der Taleban in Afghanistan erweist sich ihre Herrschaft als janusköpfig.] [Auch diesen Satz redigierte die taz heraus. Sicherlich ist die dunkle Hälfte des Januskopfes größer, aber gerade in den Augen vieler Afghan:innen wiegt das Ende der Kämpfe vieles auf – siehe hier, hier oder hier).] „Die Sicherheit ist jetzt besser, denn der Krieg ist vorbei“, sagte der Vorstand einer Tadschiken-Gemeinde aus der Provinz Logar südlich von Kabul der taz. Die Taleban hätten auch die verminten Straßen freigeräumt. „Aber es gibt viele neue Probleme. Die Märkte sind offen, aber es gibt keine Arbeit. Vorher gab es Hilfe von NGOs. Außerdem herrscht Dürre, und wir hatten keine Ernte. Die Menschen kämpfen mit der Armut.“

De facto kontrollieren die Taleban inzwischen das gesamte Land. Bewaffneter Widerstand im Pandschirtal blieb isoliert und brach schnell zusammen [, obwohl dessen Protagonisten online das Gegenteil behaupten]. Es gibt derzeit keine politische Alternative mehr zu ihnen. Zivilgesellschaftliche Organisationsstrukturen und gewählte Vertretungskörperschaften wie das Parlament [und die Provinzräte] lösten sich auf. Die Anti-Taleban-Warlords entpuppten sich als Kolosse auf tönernen Füßen. Wie die Regierungstruppen liefen ihre mit CIA-Geldern aufgebauten Milizen ohne Gegenwehr vor dem Taleban-Ansturm auseinander, und sie selbst flohen ins Ausland. Eine von ihnen und Resten des Pandschir-Widerstands geplante Exilregierung – die nach einer Mitteilung der dissidenten afghanischen Botschaft in der Schweiz schon existieren soll – ist nur der Versuch, den Machtanspruch einer Elite zu verlängern, deren systemische Korruption und politischer Exklusivitätsanspruch maßgeblich zum Scheitern des westlichen Afghanistan-Einsatzes beitrugen.

Trotz seines wiederholt demonstrierten Terrorpotentials [siehe die Anschläge am Kabuler Flughafen noch während der Evakuierung sowie auf die schiitischen Moscheen in Kundus und Kandahar] stellt auch der afghanische Ableger des Islamischen Staates (ISKP) keine strategische Bedrohung für die neuen Machthaber dar. Nachdem sich im Ende 2019 sogar die kleinen salafistischen Gemeinschaften Ostafghanistans wegen dessen überbordender Brutalität vom real existierenden IS-Mini-Kalifat lösten und Taleban und Regierungstruppen dagegen zur Hilfe riefen, fehlt ihm jegliche soziale Basis. Der Terror versprengter IS-Gruppen stellt höchstens einen marginalen Störfaktor dar.

[Inzwischen wies ein afghanischer Analyst darauf hin, dass das brutale Vorgehen der Taleban gegen ISKP – sie holten im August mehrere von der früheren afghanischen Regierung inhaftierte Führer der Gruppe aus dem Gefängnis und erschossen sie; auch mehrere salafistische Geistliche mit IS-Sympathien wurden ermordet – der Gruppe wieder Zulauf verschaffen könnte. Und dass der IS keine strategische Gefahr für die Taleban darstellt, bedeutet auch nicht, dass die Gruppe keine Gefahr für die von ihm besonders bedrohten religiösen Minderheiten darstellt. Zudem sagen Sicherheitsanalysten in Kabul, dass Vorfälle „die laut Gerüchten mit ISKP in Verbindung gebracht werden, nie direkt [von der Gruppe] beansprucht wurden [und das ist ungewöhnlich]“. Es sei „höchst wahrscheinlich, dass verschiedene Akteure versuchen werden, diesen Namen zu nutzen, um Publizität und Legitimität für ihre Aktionen zu erwerben, selbst wenn sie kein wirkliches Verhältnis zu den ISKP-Netzwerken haben“. Die Analysten sagen nicht, welche Akteure das sein könnten, aber dass „multiple Faktoren – einschließlich wirtschaftlicher Instabilität und beginnende Fragmentierung in den Machtstrukturen des Taleban-Emirats – … in den kommenden Monaten die Entstehung neuer Konfliktakteure befeuern könnten.“

Die Taleban schafften viele Frauenrechte ab. In einer ihrer ersten Amtshandlungen setzten die Taleban die Geschlechtertrennung auch für die Universitäten in Kraft, nachdem Mädchen und Jungen bereits während der Anwesenheit der westlichen Truppen an den Schulen getrennt lernten. In mehreren Provinzen schlossen sie Mädchenschulen, angeblich aus Sicherheitsgründen. [Laut Human Rights Watch gäbe es keine öffentlich bekannten Instruktionen bezüglich Beschäftigung von Frauen oder Bildungszugang für Mädchen. Allerdings hätten einzelne Taleban- oder Schulfunktionäre Lehrerinnen mitgeteilt, die ältere Schüler unterrichteten, dass sie nicht länger benötigt würden. Als nach einer längeren Corona-bedingten Pause Mitte September die Schulen wieder öffneten, durften alle Jungen, aber nur die Mädchen bis zur 6. Klasse wieder zum Unterricht. Universitätsdozentinnen wurde mitgeteilt, dass sie nur noch Studentinnen unterrichten dürften; Büros und Klassenräume wurden nach Gendern geteilt, z.B. durch Vorhänge.]

In Kabul schafften die Taleban das Frauenministerium ab und quartierten in dessen Gebäude ausgerechnet die berüchtigte Moralpolizei [amr bu-l-maruf] ein. Frauenhäuser schickten aus Angst vor Repressalien ihre Bewohnerinnen zurück zu ihren Familien. Unternehmerinnen schließen oder verkaufen ihr Business (siehe hier und hier). Weibliches Behördenpersonal wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben, oder zieht das wegen Gerüchten über Zwangsverheiratungen mit Talebankämpfern von sich aus vor. Bestätigt wurden solche Vorfälle nicht. [Der vorangegangene Satz fehlt im taz-Text ebenfalls.] [Viele Frauen blieben laut Human Rights Watch auch zu Hause, weil die Taleban keine klaren Bekleidungsvorschriften erließen oder „aus Furcht vor bewaffneten Taleban in den Straßen.“ Allerdings berichten Kabuler Einwohner, dass es erstaunlich wenige Bewaffnete, Taleban-Kontrollposten oder –Patrouillen gebe.] Andere Frauen erscheinen trotzdem weiter auf Arbeit, um sich den Anspruch auf ihr Gehalt zu bewahren, dessen Weiterzahlung die Taleban zusagten. Taleban gingen brutal gegen Demonstrantinnen vor, die ihre Rechte einforderten, sowie gegen Journalisten, die darüber berichteten. [Öffentliche Proteste sind inzwischen abgeebbt, aber es gibt Anzeichen dafür, dass man/frau sich nun nichtöffentlich trifft.)]

Shaharzad Akbar von der Menschenrechtskommission berichtete Mitte September, die Taleban hätten alle Büros ihrer Organisation übernommen und zum Teil Unterlagen vernichtet. Ein Talebansprecher erklärte aber, die Kommission werde weiterarbeiten – sicher im Sinne der neuen Machthaber.

Am 5. Oktober berichtete amnesty international, dass Talebankämpfer bei einer Schießerei in der Zentralprovinz Daikundi zwei frühere Regierungssoldaten, einen Zivilisten und ein 17-jähriges Mädchen getötet und anschließend neun weitere Regierungssoldaten erschossen hätten, nachdem diese sich ergaben. Ähnliche Vorfälle gab es im August in den Provinzen Ghasni und Kandahar. Ebenfalls aus Daikundi berichtete im September die Kabuler Zeitung Hasht-e Sobh von Vertreibungen von Hasara-Bauern durch örtliche Taleban [siehe auch im Spiegel; engl. hier; inzwischen berichtete die Zeitung, die Taleban hätten – wohl auch nach der weltweiten Berichterstattung – erklärt, die Bauern sollten ihr Land erst „im nächsten Frühjahr“ verlassen. Das könnte ein Rückzieher sein, ohne das zuzugeben, aber auch der Versuch, die Frage offen zu lassen und die Vertreibung umzusetzen, wenn niemand mehr an das Probleme denkt.]. In Kandahar warfen sie Familien von Soldaten der früheren Regierungsarmee aus ihren Wohnungen.

Gleichzeitig zeigen sich die Taleban bisher nicht in der Lage, das Land geordnet zu regieren. Talebankommandeure aller Levels können in ihrem jeweiligen Einflussbereich offenbar oft machen was sie wollen. [In Kandahar ordneten sie z.B. an, dass die örtlichen Radiosender keine Musik mehr spielen oder Frauen als Sprecherinnen auftreten dürfen – aber eine landesweit gültige Vorgabe scheint es nicht zu geben.] In Kabul demütigten Talebankämpfer, die als Polizei agieren, öffentlich junge Männer, die Jeans trugen [erwähnt hier; ich habe das Video auch in den sozialen Medien gesehen, aber keinen Link mehr]. In einigen Provinzen verboten sie Männern, sich [entsprechend islamischer Bartmode] zu rasieren, und Frauen, Handys zu benutzen [vieleicht um junge Frauen daran zu hindern, wie weit verbreitet, so Kontakte mit männlichen Wesen zu unterhalten] oder ohne männliche Begleitung auf die Straße zu gehen. Dass Talebanführer wiederholt erklärten (siehe hier und hier), solche Praktiken entsprächen nicht der offiziellen Politik, hat kaum Auswirkungen. Sicherheitsanalysten in Kabul sprechen von einem „Mangel an Polizeiarbeit“, auch gegenüber den eigenen Leuten.

Das schafft Freiräume. Einwohner Kabuls sagten der taz, die Kriminalität nehme wieder zu, nachdem „eine Atempause aus Angst vor den Taleban“ verfliege. Kriminelle oder sogar Binnenflüchtlinge – gehören sie nur wie die meisten Taleban der Bevölkerungsgruppe der Paschtunen an – bewaffneten sich, gäben sich als Taleban aus und durchsuchten in deren Namen Häuser früherer Regierungsmitglieder oder konfiszierten Autos. Private Rechnungen aus 20 Jahren einer allseits brutal geführten Krieges werden beglichen, obwohl die Talebanführung versprach, dies nicht zuzulassen. [Von den Taleban freigelassene Häftlinge suchen nach den Richter:innen und Staatsanwält:innen, die sie einst verurteilt hatten; ähnliches gilt für wegen Gewalt gegen Frauen Verurteilte.] Zudem verliefen angekündigte Untersuchungen von Fällen von Gewalt [durch Talebankämpfer u.a. gegen Demonstratinnen] im Sande oder werden intern gehalten, um die Kämpfer nicht aufzubringen. [Im September baten die Taleban Angehörige der alten Polizei, wieder zum Dienst am Kabuler Flughafen zu kommen.]

[Offenbar haben die Taleban auch keinen Überblick über ihre eigenen Kämpfer. Im September instruierte ihre „rank reform-Kommission“ (eine Institution, die es auch schon unter der alten Regierung gab) die einzelnen Kommandeure, Personallisten vorzulegen und dafür zu sorgen, dass „niemand, der in persönliche Dispute, Korruption, Unmoral, Folter, finanzielle Korruption und anderes Fehlverhalten involviert“ sei, in ihren Reihen zu dulden. Am 12. Oktober ordnete die Taleban-Regierung an, Leute zu entlassen, „die nicht gebraucht werden und die Menschen misshandelt“ hätten.]

Entgegen früherer Avancen greifen die Taleban auch nicht auf die Verwaltung der früheren Regierung zurück, um das Land am Laufen zu halten. Die neue Regierung besteht fast vollständig aus Mullahs. Bis hinunter zu den Abteilungsleitern schickten sie als politisch angesehene Kader nach Hause. In den Ministerien, so Augenzeugen, fänden sich vor allem bewaffnete Taleban. Taleban-Hochschulminister Abdul Baki Hakkani bezeichnete die Absolventen des modernisierten Bildungssystems der vergangenen 20 Jahre sogar als „nutzlos“.

Es gibt auch gegenläufige Tendenzen. Ende voriger Woche etwa sendete der private afghanische Fernsehkanal Tolo TV Bildmaterial, dass zumindest in drei Provinzen Nord-Afghanistan Mädchenschulen wieder öffneten – „von Klasse eins bis zwölf“. [Die Frauenrechtlerin Wazhma Frogh hielt dagegen, dies werde auch dort von Ort zu Ort anders gehandhabt.] Ende September sagte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF für die Ostprovinz Kunar auf Initiative der dortigen Talebanbehörden zu, 500 Schnelllernzentren zu finanzieren, um kriegsbedingten Rückstand aufzuholen. Bereits Ende 2020 vereinbarte UNICEF, 680 bereits in Konfliktgebieten funktionierende sogenannte gemeinschaftsbasierte Schulklassen – oft in Privathäusern oder Moscheen – auf 4000 aufzustocken, ausdrücklich auch für Mädchen.

Unterdessen leidet die Bevölkerung in Folge von De-facto-Sanktionen unter einem Wirtschaftskollaps. [Der Internationale Währungsfonds (IWF) – gewöhnlich eher vorsichtig in seinen Prognosen – meldete gerade, dieses Jahr könnte die afghanische Wirtschaft um bis zu 30 Prozent schrumpfen.] Die US-Regierung fror nach der Machtübernahme der Taleban die afghanischen Auslandsguthaben ein, die sich auf neun Milliarden US-Dollar belaufen sollen. Regierungen von Geberländern, darunter die deutsche [und Institutionen wie die Weltbank], stellten Entwicklungszahlungen ein, aus denen oft auch Gehälter für Angestellte der Regierung und von Nichtregierungsorganisationen bestritten wurden, und beschränken sich auf humanitäre Nothilfe. Das führte zu akuter Bargeldknappheit. Vor den Banken bilden sich bis heute lange Schlangen. Kontenbesitzer kommen nur an Teile ihres Ersparten, Importeure lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen. Die Landeswährung Afghani verliert an Wert. Lebensmittel– [und Treibstoff]preise sind gestiegen, laut EU teilweise um über 50 Prozent. [Aus einem Kabuler Waisenhaus wurde berichtet, dort müssten wegen ausbleibender Gelder die Nahrungsrationen für die Kinder zusammengestrichen werden.]

Das trifft eine Bevölkerung, die bereits zu vier Fünfteln unter der Armutsgrenze lebt. [Dazu kommt eine neue Dürreperiode – siehe hier zu Ernteausfällen in Bamian. „Hunger ist Afghanistans vordringlichstes Problem, schreibt auch die Zeitung Hascht- Sobh.]

Familien versuchen, Haushaltsgegenstände zu Geld zu machen (siehe hier und hier). Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Hauptbasar von Kabul sagte der taz, er bekomme „kaum noch das Brot für meine Familie zusammen“. Es gäbe kaum Käufer. Viele Nachbargeschäfte hätten bereits geschlossen. Laut Weltgesundheitsorganisation arbeiten nur noch 17 Prozent aller Kliniken, weil die Hilfsgelder austrocknen [siehe auch hier].

Nun droht auch ein Kollaps der Energieversorgung. 70 Prozent des Strombedarfs kommen aus dem Ausland, aber die Taleban können die von der Vorgängerregierung übernommenen Schulden von 90 Millionen US-Dollar bei den Lieferanten Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan nicht bezahlen. Ein Arzt aus Wardak berichtete, er müsse Entbindungen beim Licht [ihrer Handys] durchführen, weil es kein Geld für Diesel für den Generator gebe.

Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte in September, bis Mitte nächsten Jahres könnten 97 Prozent der Afghan:innen in Armut leben. [Schon jetzt bekommen laut UN-Welternährungsprogramm WFP 95 Prozent der Afghaninnen nicht genug zu essen. Um das Gesundheitswesen am Leben zu erhalten, vereinbarten Weltbank und IWF Anfang Oktober mit dem UNDP, dass die UN-Agentur die Bezahlung des Gesundheitspersonals übernehmen kann – ohne dass die Talebanführung auf das Geld Zugriff erhält.]

Thomas Ruttig