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Vor kurzem habe ich – unter Bezug auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung – über Sinn und Unsinn der Beteiligung der Bundeswehr an der Ausbildung der afghanischen Streitkräfte geschrieben (hier, siehe auch hier und hier zum Polizeitraining).

Wie wenig wirkungsvoll die deutsche Rolle (im Rahmen der ISAF- und RS-Ausbildungsmissionen) bei der Ausbildung der regulären afghanischen Streitkräfte in den letzten Jahren war, zeigt sich auch daran, dass in Afghanistan gerade die nächste Generation von Milizen aufgestellt wird. Trotz einer Gesamtstärke von 336,000 „Mann“ (übrigens sind nach US-Angaben nur 1,3 Prozent Frauen) – 180,000 in der Nationalarmee (ANA) und 156,000 in der Nationalpolizei (ANP) – erfüllen, von Ausnahmen abgesehen, die regulären afghanischen Streitkräfte ihren Auftrag nicht. Deshalb suchen die afghanische Führung und ihre ausländischen Verbündeten immer wieder Zusatz- bzw Ersatzlösungen. Seit 2002 haben die USA allein 73,5 Mrd Dollar für die regulären afghanischen Streitkräfte ausgegeben.

Örtliche Miliz des Parlamentsabgeordneten Saher Qadir, die jetzt in die Territorialarmee eingegliedert werden soll. Foto: Qadirs Facebook-Seite (12.2.2016).

 

In diesen Tagen wird deshalb in Afghanistan mindestens die sechste Auflage des Aufbaus irregulärer und semi-regulärer Streitkräfte („Milizen“) seit 2001 umgesetzt (eine Übersicht bis 2010 bei AAN hier). Bisher noch nicht offiziell verkündet, soll eine sogenannte Afghanische Territorialarmee (ATA) von 20.000 Mann aufgestellt werden, die die ANA in Gebieten unterstützen soll, in denen sie Schwierigkeiten hat, von den Aufständischen zurückerobertes Terrain zu halten. Sie soll aus den örtlichen Gemeinschaften und aus ehemaligen Soldaten rekrutiert werden. Zwei Pilotprojekte sollen in den Distrikten Kot und Atschin (Provinz Nangrahar in Ost-Afghanistan) starten, in denen der afghanische Ableger des Islamischen Staates (Daesch) aktiv ist (mehr zur ATA bei AAN hier und zu den Pilotprojekten hier).

Vorbild ist die Afghan Local Police (ALP), die ursprünglich 2009/10 von den US-Spezialtruppen als „Dorfschützerprojekt“ aufgestellt wurde und dem Innenministerium unterstellt ist. Sie wird aus US-Mitteln bezahlt, die der afghanischen Regierung direkt zur Verfügung gestellt werden (also nicht wie bei den regulären Streitkräften über den Law and Order Trust Fund for Afghanistan, LOTFA). Nach US-Angaben betragen die jährlichen Soldkosten für die ALP knapp 40 Mio US-Dollar. Die Aufstellung der ALP geschah übrigens gegen den Willen des damaligen Präsidenten Hamed Karsai. Der ließ sich später von dem Plan „überzeugen“, wohl auch, weil damit neue Finanzflüsse verbunden waren, die es ihm erlaubten, eigene Anhänger zu „versorgen“.

Ihre Kämpfer sollten in Dörfern rekrutiert werden, in denen die offiziellen Sicherheitskräfte nur schwach oder gar nicht vertreten waren, auf Vorschlag der Dorfältesten. (Das lief in der Praxis oft daraus hinaus, dass der örtliche „Warlord“ dabei das Sagen hatte oder sogar seine bis dahin „freischaffend“ tätige Privatmiliz in den Sold der Amerikaner bzw später der afghanischen Regierung stellen konnte, was ihm eigene Ausgaben erspart.) Die jeweilige ALP-Einheit sollte auch nur im eigenen Dorf tätig werden dürfen – was in der Praxis ebenfalls oft nicht der Fall war (nicht nur weil die Provinzpolizeichefs Ausnahmen genehmigen dürfen). In vielen Fällen war die Bezahlung unregelmäßig. Das führte v.a. in ethnisch gemischten Gebieten dazu, dass die ALP-Kämpfer sich bei der anderen Gruppe durch die Erhebung von „Steuern“ oder offenes Plündern schadlos hielten. Dazu kamen wiederholt Berichte über z.T. schwere Menschenrechtsverletzungen.

Es gibt auch positive Berichte. Die UNO berichtete (hier), dass die meisten Gemeinden die Aufstellung der ALP begrüßt hätten. Gosztonyi/Köhler/Feda berichteten 2015, dass „die Integration unregulieter [also illegaler] Anti-Taleban-Milizen in die Afghan Local Police (ALP) Ende 2011 und Anfang 2012, in der Tat, in den Augen der Bevölkerung zu einer verbesserten Leistung dieser Milizen“ geführt hätten. (1) Besser, aber schon gut?

Ursprünglich auf etwa 10.000 Mann angelegt, ist die ALP inzwischen, mit einer Ausnahme, in allen Provinzen des Landes aktiv (und zwar in 199 von etwa 400 Distrikten), und hatte Ende Mai US-Angaben zufolge eine Mannschaftsstärke von 28.986 erreicht. Davon seien gut 25.000 Mann (ca 13%) ausgebildet worden – das widerspricht allerdings US-afghanischen Abmachungen, denen zufolge niemals mehr als 5 Prozent ohne Training aktiv sein dürfen (siehe hier, S. 104ff; mehr zur ALP hier bei AAN).

Nach ähnlichen Kriterien soll jetzt die ATA geschaffen werden. Aber obwohl das afghanische Innenministerium als bedeutend korrupter und weitgehend unreformiert gilt (siehe bei AAN hier), ist auch das Verteidigungsministerium – dem die ATA unterstehen soll – ebenfalls nicht ohne Fehl und Tadel. Der US-Sonderinspekteur sprach für 2015/16 weiterhin von hohen Desertionsraten und Verlusten sowie einer Abwesenheitsrate von 7 Prozent bei der Armee (hier und hier). Deshalb könnten sich auch hier, ähnlich wie bei der ALP, Missbrauchschancen eröffnen.

In einem weiteren Plan soll zudem eine 15.000-Mann-starke Miliz zur Grenzsicherung aufgestellt werden, die dem Ministerium für Stammes- und Grenzangelegenheiten unterstehen soll. Genauere Informationen dazu gibt es bisher nicht. Der Ministerposten in diesem Ressort ist z.Zt. vakant, aber Präsident Aschraf Ghani hat dafür Gul Agha Scherzai vorgeschlagen, einen aus Kandahar stammenden Warlord (und Karsai-Rivalen), der ebenfalls über private bewaffnete Kräfte verfügt. (Wie bei den ATA-Piloprojekten hat die ist die Aufstellung solcher Milizen im Grunde eine Legalisierung bestehender Milizen. Das trägt auch Vor-Wahl-Charakter; für Juli 2018 sind Parlamentswahlen geplant, auch wenn bezweifelt werden muss, dass der Termin eingehalten werden kann – und die Regierung kann Verbündete gewinnen, wenn sie lokale Machthaber versorgt).

Schließlich wurden für den schiitischen Trauermonat Muharram, dessen Höhepunkt der Aschura-Tag am Sonntag war, hunderte (wohl v.a. schiitische) Zivilisten bewaffnet. Einer AFP-Meldung zufolge (hier) sollten die vom Innenministerium rekrutierten Bürger gemeinsam mit zusätzlich mobilisierten Soldaten und Polizisten Moscheen vor Anschlägen schützen. Schiitische Moscheen – darunter in Kabul, Herat und Masar-e Scharif – wurden 2016 und in diesem Jahr verstärkt zu Anschlagszielen des sektererisch-antischiitischen Islamischen Staates, eine Tendenz (siehe z.B. hier, hier, hier in den Medien sowie hier und hier bei Afghanistan Zhaghdablai). “Nach den jüngsten schlimmen Vorfällen sollte sich die Bevölkerung nicht darauf verlassen, allein von den Sicherheitskräften beschützt zu werden“, sagte Vizepräsident Sarwar Danesch. Nach Anschlägen hatte es immer wieder Beschwerden gegeben, dass die Sicherheitskräfte nicht genug für die Sicherheit der Bevölkerung täten. In vielen schiitischen Gebieten ist seit Monaten eine Selbstbewaffnung im Gange. Danesch zufolge sollen diese bewaffneten Gruppen aber „ein bis zwei Jahre, abhängig von der Sicherheitslage“ bestehen bleiben. Auch hier gab es erste Missbrauchsberichte (Mehr von mir dazu bei AAN hier.)

 

Eine neue, sehr übersichtliche Zusammenstellung der Untersuchungsergebnisse zu den afghanischen Streitkräften findet sich hier beim US-Generalinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR).

 

(1) Kristóf Gosztonyi, Jan Koehler, Basir Feda, “Taming the Unruly: The Integration of Informal Northern Afghan Militias into the Afghan Local Police” in: S&F Sicherheit und Frieden, Jahrgang 33 (2015), Heft 4, S. 46 – 52.