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Wir wissen, dass die Bundesregierung diese nicht nennen kann, weil es solche Gebiete nicht gibt. Wenn sich ihre Vertreter genau ausdrücken, sprechen sie ja auch von unterschiedlich sicheren Gebieten, was ja eine Binsenwahrheit ist – man sollte auch korrekter „verschieden unsichere Gebiete“ sagen.

„Teilweise“ sichere Provnz Ghor? Distriktzentrum von Pasaband (Ghor). Foto: Pajhwok.

 

Seit dem neuen AA-Zwischenbericht zur Sicherheitslage wissen wir auch, dass es ihr an zuverlässigen Einschätzungen über alle Provinzen Afghanistans fehlen. Der Bericht enthält einige krasse Fehleinschätzungen (siehe schon hier).

Z.B. werden darin Aussagen zur Wahrscheinlichkeit von Taleban-Angriffen in allen 34 Provinzen des Landes (bzw Teile davon) getroffen und diese damit gewissermaßen, wenn auch nicht ausdrücklich, kategorisiert. Allerdings wird selbst im Bericht zugegeben, dass es – da „die Funktionsfähigkeit der deutschen Botschaft in Kabul massiv und dauerhaft eingeschränkt ist (…), Gespräche mit afghanischen Behörden und Nichtregierungsorganisationen sowie Dienstreisen [im Land] nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich“ sind – „kaum Möglichkeiten zur Gewinnung eigener Erkenntnisse vor Ort“ gebe. Die Erkenntnisse stammen wegen dieser Einschränkungen also wohl ausschließlich oder nahezu aus Sekundärquellen, und – man höre und staune – man musste dabei „zum Teil … auf Angaben älteren Datums zurückgegriffen“ werden musste.

Hier ein Beispiel dafür, dass in dem Bericht falsche Informationen gegeben werden. Es wird u.a. behauptet, dass es „keine Anzeichen für – grundsätzlich [aber] mögliche – Angriffe“ in sieben Provinzen gebe: Baghlan, Balkh, Bamian, Dschausdschan, Pandschir, Samangan und Tachar.

In fünfen davon gab es allein in der letzten August-Woche in den meisten Fällen sogar mehrere sogenannte „sicherheitsrelevante Vorfälle“: in Baghlan, Balkh, Dschausdschan, Samangan und Tachar.

In Dschausdschan war die Lage besonders problematisch: Dort belagerten die Taleban drei Distrikte, darunter die Stadt Aqtscha; einer (Chamab) wurde zwischenzeitlich eingenommen. Im Juni wechselte das Distriktzentrum von Darsab mehrmals den Besitzer. Im Februar wurde auch in dieser Provinz eine schiitische Moschee von IS-Kämpfern angegriffen, im Januar in der Nähe der Provinzhauptstadt Schiberghan gekämpft.

All das deutet darauf hin, dass es in mehreren Distrikten von Dschausdschan, darunter nahe der Provinzhauptstadt Taleban-Präsenz gibt, die auch darauf schließen lässt, dass man mit Angriffen rechnen muss. All das ergibt sich auch schon (siehe die Links oben) aus leicht zugänglichen, englisch-sprachigen Quellen. In afghanischen Quellen würde man noch mehr finden.

Aus der Kategorisierung im AA-Bericht kann keine „Liste sicherer Gebiete“ abgeleitet werden. Die Bundesregierung tut das auch nicht explizit. Aber aus Erfahrung wissen wir: Der Bericht geht an Gerichte, die solche Informationen – wie das auch schon in der Vergangenheit der Fall war – so auslegen werden.

Ein weiteres Problem mit diesem Bericht ist, dass er – wie schon der 2016er-Bericht zur „asyl-und abschieberelevanten Lage“ – nur Vergleiche zum Vorjahr 2016 zieht und daraus „Verbesserungen“ abgeleitet werden. Siehe z.B. die Zahlen der Binnenvertriebenen (IDPs). Deren Zahl liegt in diesem Jahr mit bisher über 200.000 zusätzlichen tatsächlich deutlich unter dem Anstieg des Vorjahres (über eine Million), aber die Zahl von 2016 war der bisher absolute Rekord. Schon zwischen 2010 (351.900) und 2015 (1,17 Millionen) hatte sich deren Zahl etwa verdreifacht. Dann kam der Rekordanstieg 2016, und die Zahl für 2017 ist schon jetzt wohl die zweithöchste, je in Afghanistan registrierte.

Es wird in dem Bericht unzulässigerweise also der Langzeit-Trend vernachlässigt, der die Entwicklung seit NATO-Interventionsbeginn 2001 und insbesondere auch seit dem Ende der ISAF-NATO-Mission betrachten muss. Seither haben sich alle Schlüsselindikatoren entweder verschlechtert (IDPs, Opfer bei den afghanischen Streitkräften, territoriale Kontrolle der Taleban, teilweise die sogenannten sicherheitsrelevanten Vorfälle; auch der neue Faktor Islamischer Staat/Daesch ist dazu gekommen) oder verharren auf bisher höchstem Stand (z.B. zivile Kriegsopfer).

Zudem widersprechen die Grundeinschätzungen der Bundesregierung vom Trend der Entwicklung in Afghanistan (AA-Bericht 2016: „verbesserte Lage“; AA Juli 2017: Bedrohung für afghanische Zivilisten seit Ende der Isaf-Mission 2014 „nicht wesentlich verändert“) den der UNO und auch der jüngsten Einschätzung der EU (Dokument vom 24.7.17), in dem es heißt (meine Übersetzung):

“In den letzten Jahren war Afghanistan mit einer sich verschlechternden Sicherheitssituation und steigendem Aufständischen- und terroristischem Druck konfrontiert.”

Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan fasste die Sicherheitssituation in seinem Bericht vom März 2017 an den UN-Sicherheitsrat wie folgt zusammen:

Die generelle Sicherheitssituation hat sich durch 2016 und nach 2017 hinein weiter verschlechtert. Die Vereinten Nationen registrierten [2016] 23.712 sicherheitsrelevante Zwischenfälle, ein fast 5-prozentiger Anstieg verglichen mit 2015 und die höchste Anzahl in einem Jahr, die UNAMA je verzeichnete. (…) der Konflikt dehnte sich geografisch aus, mit zunehmenden Taleban-Aktivitäten in Nord- und Nordost-Afghanistan (…) Die Taleban übten weiterhin Druck auf die Kontrolle der Regierung über die Provinzhauptstädte Farah, Kunduz, Lashkargah (Helmand) und Tirinkot (Uruzgan) [sowie nach offiziellen afghanischen Angaben Ghasni] aus.

In seinem Juni-Bericht schrieb er:

Die Sicherheitssituation in Afghanistan ist [seither] höchst explosiv geblieben. UNAMA verzeichnete zwischen Januar und Ende März 2017 5.687 sicherheitsrelevante Zwischenfälle in Afghanistan, die höchste Gesamtzahl jemals für diesen Zeitraum seit 2001 verzeichnet. Zwischen dem 1.März und dem 31. Mai [2017] verzeichneten die Vereinten Nationen 6. sicherheitsrelevante Zwischenfälle, die einen 2-Prozent-Anstieg gegenüber dem gleichen Zeitraum 2016 repräsentieren.

Dem jüngsten Halbjahresbericht des Special Inspector of the US Government for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) zufolge stünden 11 Distrikte unter Taleban-Kontrolle und 34 unter Taleban-Einfluss (11%), während die afghanische Regierung 97 Distrikte kontrollierte und 146 beeinflusse (60%). 29 Prozent (119) seien “umstritten”. Von Ende 2015 bis Ende 2016 hatte ebenfalls nach SIGAR-Angaben (aus dem Jahresbericht 2016) die Regierung fast 10 Prozent des von ihr kontrollierten Territoriums an die Taleban verloren und diese ihre Kontrolle auf ein Viertel der afghanischen Gesamtbevölkerung ausgedehnt: von 5 auf über 8,4 Millionen Menschen.

Diese Fakten stehen auch nicht, wie im jüngsten AA-Bericht erneut behauptet, für eine „Patt“-Situation (das höchstens, wenn man sagen möchte, dass im Moment keine Seite Aussicht auf einen militärischen Sieg hat), sondern für eine Situation, die sich über mehrere Jahre zugunsten der Taleban verändert hat.

 

Hier mein Interview zum gleichen Thema mit der Stuttgarter Zeitung (Online-Langfassung vom 6.9.2017)