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Aktualisierung vom 13.6.17: Eine aufmerksame Leserin machte mich auf falsche Zahlen und deshalb auf eine falsche Berechnung in meinem Text aufmerksam – Änderungen [in eckigen Klammern].

 

„Was passiert bei der Abschiebung mit straffälligen Afghanen?“ lautete eine Frage in einem Interview, das ich neulich dem Südwestrundfunk gab. Man spielte mir zuvor eine Aussage des CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter vor, der behauptete, dass straffällige Afghanen den lokalen Behörden übergeben würden. (Kiesewetter begrüßte auch, dass Abschiebungen nach Afghanistan nach dem Bombenanschlag in Kabul ausgesetzt wurden, verteidigte aber auch die Haltung der Bundesregierung, das Land als sicher einzustufen.)

Darauf meine Antwort:

„Ich bin im Februar in Kabul gewesen als einer der Abschiebeflieger ankam und habe mit den afghanischen Behörden gesprochen. Die sagten mir, dass ihnen die deutschen Behörden gar nicht sagen, wer unter den Abgeschobenen ein Strafftäter ist, aus Datenschutzgründen. Es landet auch keiner im afghanischen Gefängnis.“

Kabul, Blick auf dem Flughafen 8aber nicht vom Bimaru). Foto: Thomas Ruttig

Kabul, Blick auf dem Flughafen. Foto: Thomas Ruttig

 

Keine Zahlen, dann erste Zahlen

Bisher ist offiziell auch überhaupt nicht bekannt, wie viele der abgeschobenen Afghanen über Straftäter waren. Die Bundesregierung bzw Landesregierungen blieben in öffentlichen Aussagen bisher dazu vage. Nach dem ersten Abschiebeflug im Dezember 2016 sprach Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einer Pressemitteilung davon, dass „rund ein Drittel“ der damals Abgeschobenen straffällig geworden sei und berichtete von einer breiten Palette an Vorwürfen, gab dazu aber nur wenig nähere Informationen:

Unter den 34 Personen waren rund ein Drittel Straftäter. Verurteilt unter anderem wegen Diebstahl, Raub, Betäubungsmitteldelikten, sogar Vergewaltigung und Totschlag. Sie wurden teilweise aus der Strafhaft abgeschoben.

(Ich erfuhr inzwischen von Juristen, dass eine Abschiebung nach Verbüßung der Hälfte der Haft möglich ist.)

Bayerns Innenminister sagte nach der von München erfolgten Sammelabschiebung im März 2017:

Bei den Abgeschobenen handelte es sich ausnahmslos um allein stehende Männer. Einige von ihnen waren in ihrem Gastland auch straffällig geworden“, teilte das bayerische Innenministerium mit.

Ich dokumentierte hier auch bereits einen recht absurden Austausch auf Twitter mit dem Bundesinnenministerium:

Bei einem Gespräch über Twitter weigerte sich [de Maizières] Ministerium erneut, konkrete Zahlen zu nennen und zog sich auf die Verantwortlichkeit der Länder für Abschiebungen zurück [dabei gab es schon zahlen, siehe die Antwort auf die Linken-Anfrage, unten]:

Im Falle von Sammelabschiebungen koordiniert der Bund und unterstützt die Länder bei der Durchführung. (hier)

Dem BMI obliegt dabei u.a. die Absprache mit dem Herkunftsland und die Organisation des Fluges durch die [fehlt] (hier)

… Rückführungen selbst Aufgabe und Entscheidung des jeweiligen Bundeslandes. #Föderalismus (hier)

Zu den einzelnen Personen können nur die Innenministerien der Länder Auskunft geben. (hier)

 

Nun gibt es aber doch langsam genauere Zahlen. Zuerst teilte Linken-MdB Ulla Jelpke am 27. April 2017 mit – noch ohne die Zahlen zum April-Flug (siehe unten bei der FAZ):

„Aus eigener Anfrage an die Bundesregierung weiß ich, dass bei den erfassten ersten vier Sammelabschiebungen von fast hundert Abgeschobenen 28 angebliche Straftäter dabei waren.

Genau sind das: 10 (Dez 2016), 4 (Jan 2017), 7 (Feb), 4 (März) – siehe in dieser Antwort der Bundesregierung (auf S. 29):

20170410AntwBuRegAnfrage-Afghanen in D, Ausreisepfl, Abgeschob per BuLand

Vor wenigen Tagen berichtete die FAZ, dass – nun mit Stand einschließlich April-Abschiebung – eine Mehrheit der Abgeschobenen nicht straffällig geworden sei:

Diebstahl, Raub, Betäubungsmitteldelikte, Vergewaltigung und Totschlag. Diese Straftaten hatte ein Teil jener 34 Afghanen begangen, die am 14. Dezember vorigen Jahres von der Bundesregierung in ein Flugzeug gesetzt und an den Hindukusch geflogen worden waren. Alle 34 hatten ein Asylverfahren hinter sich und waren abgelehnt worden. Doch nur zehn von ihnen waren straffällig gewesen. Die andern 24 hatten sich nichts zuschulden kommen lassen, hatten nur eben keine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland. Grundlage der seither zum Gegenstand des politischen Streits gewordenen Abschiebungen in das Land am Hindukusch war eine Vereinbarung, die die Regierungen in Berlin und Kabul Anfang Oktober 2016 getroffen hatten.

Die Mischung von Straftätern und von Abzuschiebenden, die nicht straffällig geworden waren, blieb bei den folgenden Flügen nach Afghanistan ähnlich. Am 23. Januar dieses Jahres wurden 24 Afghanen per Charterflug in ihr Herkunftsland gebracht, sieben von ihnen waren Straftäter. Am 22. Februar lautete das Verhältnis 18 zu vier, am 27. März 15 zu sieben und beim bisher letzten Flug nach Kabul, am 24. April, waren fünf der 14 Betroffenen Straftäter.

[Allerdings waren 25, nicht 24, Abgeschobene auf dem Januar-Flug. Und auch die „Sequenz“ der Straftäter weicht hier von den Angaben der Bundesregierung ab: 10, 7, 4, 7, 5 (FAZ) gegen 10, 4, 7, 4, x (Bundesregierung). Ich verwende nun also die Angaben der Bundesregierung (Dez 2016 bis März 2017) plus die Angabe der FAZ für April 2017.]

Das wären insgesamt [30] Straftäter unter [den seit Dezember 2016 insgesamt 106] Abgeschobenen – [28,3] Prozent, also deutlich unter de Maizières Drittel.

 

„Generalverdacht, Doppelbestrafung, Stigmatisierung“

Pro Asyl kommentierte bereits im Januar 2017, dass es „sehr unklar” bleibe, “wie schwerwiegend die Delikte überhaupt sind, die ihnen zur Last gelegt werden.

Die Recherchen ergaben bislang nur, dass in Hamburg mindestens eine Person direkt aus der Strafhaft abgeholt wurde und fünf der Abgeschobenen aus Nordrhein-Westfalen »Straftäter« gewesen seien – das ergab eine Anfrage im Innenministerium NRW, in der jedoch auch erwähnt wurde, das nur drei von ihnen rechtskräftig verurteilt wurden. In zwei Fällen lief das Strafverfahren noch. Diese Auskunft gibt Anlass zur Frage, warum bei laufenden Strafverfahren überhaupt das Wort »Straftäter« benutzt wird. (…)

Erkennbar wird versucht, der Gesamtgruppe der Abgeschobenen mit dem Etikett »Straftäter« einen Generalverdacht überzustülpen. 

Jelpke (s.o.) schrieb weiter:

Die Bundesregierung konnte mir aber nicht einmal Auskunft geben, ob es hier um aufenthaltsrechtliche Straftaten, Fahren ohne Fahrschein oder andere Deliktgruppen geht. (…) Eine Abschiebung von mutmaßlichen Straftätern stellt eine unzulässige Art der Doppelbestrafung dar.

Ich berichtete bereits über einen fragwürdigen Fall, den des afghanische Bierkrugwerfers aus Bayern (hier).

Und die FAZ erläuterte im oben zitierten Artikel:

In Afghanistan hatte aber die bei jedem Charterflug wiederholte Darstellung, unter den Abgeschobenen seien viele Straftäter, offenbar unerwünschte Nebenwirkungen. Mehrere der nach Kabul abgeschobenen Asylbewerber beklagten sich im Gespräch mit dieser Zeitung, dass sie nach ihrer Ankunft in Afghanistan unter Generalverdacht gestellt würden.

Selbst in der eigenen Familie würden sie oft fälschlich verdächtigt, in Deutschland eine Straftat begangen und so ihre Rückführung selbst verschuldet zu haben. Das erhöhe das Stigma, das ohnehin mit der Abschiebung einhergeht. Sie wird als Scheitern wahrgenommen, weil sich die Familien meist hoch verschuldet haben, um einen ihrer Söhne nach Europa zu schicken. Das Misstrauen gegenüber vermeintlich kriminellen Asylbewerbern ist so groß, dass Abgeschobene sich im Gespräch mit dieser Zeitung sogar gegenseitig verdächtigten, Straftäter zu sein. Verstärkt wird dieser Verdacht durch die Abschiebehaft, die in Afghanistan häufig falsch gedeutet wird. Sie ist in Deutschland auch für strafrechtlich vollkommen unbescholtene abgelehnte Asylbewerber vorgesehen, nur um eine möglichst reibungslose Rückführung zu gewährleisten.

Wie bereits von mir berichtet (hier), forderte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Barbara Kofler, jüngst die Aussetzung der Abschiebung auch auf Straftäter und „Gefährder“ auszudehnen:

Sie sei „grundsätzlich“ dagegen, nach Afghanistan abzuschieben, und – im Gegensatz zur bisherigen Position der Bundesregierung – „nicht der Meinung, dass es sichere Regionen gibt in Afghanistan“.

Kofler sprach sich dafür aus, auch Straftäter und Gefährder in den Abschiebestopp einzubeziehen. Sie hoffe, „über diesen Komplex auch nochmal ins Gespräch zu kommen“, sagte Kofler. Es müsse beachtet werden, „wie schwierig die Lage der Menschen dort wirklich ist“. Kofler plädierte dafür, sich in der Abschiebungsfrage nach Afghanistan „neu zu orientieren“.

 

Straftaten afghanischer Asylbewerber

Das heißt aber nicht, dass afghanische Asylbewerber nicht tatsächlich auch schwere Straftaten begangen haben. Erst zuletzt machte der Fall eines 41-Jährigen Schlagzeilen, der in der Oberpfalz ein Kind ermordete – er durfte nach einer zuvor verübten Straftat (schwere Brandstiftung) nicht abgeschoben werden, weil er zum Christentum konvertiert war, was in Afghanistan mit dem Tod bestraft werden kann. Auch n-tv berichtete im Dezember 2016 von einem komplizierten Fall nach einem versuchten Totschlag.

Im März wurde ein 33-jähriger Afghane zu lebenslanger Haft verurteilt, der in einer Asylbewerberunterkunft aus Eifersucht seine Ehefrau getötet hatte. Im Dezember 2016 wurde ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling als Tatverdächtiger des gewaltsamen Todes, nach vorangegangener Vergewaltigung, einer 19-jährigen Medizinstudentin in Freiburg festgenommen. Er wurde inzwischen auch wegen Mordes angeklagt.

Im Juli 2016 verletzte ein afghanischer Asylbewerber in einem Regionalzug bei Würzburg fünf Menschen schwer und wurde anschließend auf der Flucht vom SEK erschossen.

 

Zum Schluss zwei Artikel zur Frage: „Wann straffällige Ausländer abgeschoben werden können – und wann nicht” – vom Mediendienst Integration und aus der Süddeutschen Zeitung.