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Hier ein wichtiger Nachtrag, „for the records“. Dazu zunächst ein Tweet der Ampel-Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) von Anfang Januar mit der Aussage: „Wer aus Afghanistan geflohen ist und bei uns Schutz sucht, wird absehbar nicht dorthin zurückkehren können.“

Das sollte indirekt bedeuten, dass die Bundesregierung so bald keine abgelehnten afghanischen Asylbewerber (m.W. handelt es sich nur um Männer) nach Taleban-Afghanistan abschieben wird.

Darauf deutet auch hin, dass Ministerin Faeser Afghanistan nun als „Herkunftsland mit guter Bleibeperspektive“ bewertet. Das hatte dpa am gleichen Tag berichtet (siehe auch auf der BAMF-Webseite und der des BMI), an dem das BMI den o.g. Tweet absetzte. Das ist eine drastische Abkehr von der Politik ihres Amtsvorgängers, des Abschiebe-Hardliners Horst Seehofer (CSU). 

Diesen Sachverhalt vermittelte das Bundesinnenministerium (BMI) auf Twitter allerdings nicht.

Vom BMI wird dieser Kurswechsel „in einer internen Vorlage“ damit begründet, dass davon auszugehen sei, dass die Schutzquote für Afghanistan „perspektivisch steigen wird“ – da kaum vorstellbar ist, dass Deutschland Afghanen in das nun wieder von den Taleban beherrschte Land abschieben kann, in dem die Menschenrechtslage sich rapide verschlechtert hat. Wer aus Afghanistan geflohen sei, werde erst einmal nicht dorthin zurückkehren können, zitierte auch dpa Ministerin Faeser. Vielmehr erfordere es die derzeitige Lage, „dass wir Woche für Woche Menschen aus Afghanistan evakuieren“. Das Bundesarbeitsministerium hatte dem Bericht zufolge afghanischen Asylbewerbern, die nach dem 1. August 2019 eingereist sind, Zugang zu Berufssprachkursen gewährt – also offenbar nicht zu Sprachkursen allgemein (siehe auch hier).

Die Ampel-Parteien hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag allerdings nicht auf einen generellen Abschiebestopp für Afghan:innen einigen können. Im August setzte die alte Bundesregierung die Abschiebungen zeitweilig aus. Die Regierung in Kabul hatte wegen der schlechten Sicherheitslage bereits seit Monaten darum gebeten und wegen der ausbleibenden Reaktion der EU-Staaten im Juli einseitig alle Abschiebeflüge suspendiert.

Unter Seehofer hatte das BMI Afghan:innen eine „schlechte Bleibeperspektive“ zugesprochen, da Asylbewerber:innen aus dem Land die dafür ausschlaggebende 50-Prozent-Schutzquote nicht erreicht hätten. Laut dpa lag die sogenannte Gesamtschutzquote für Afghanistan in den ersten sieben Monaten des vergangenen Jahres bei rund 39 Prozent.

Die Berechnungsgrundlage für die Schutzquote hatten Organisationen wie Pro Asyl allerdings seit langem angezweifelt, da das dem BMI unterstehende Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei deren Berechnung auch die Fälle einfließen ließ, in denen Anträge aus „formellen“ Gründen bereits vor einer Entscheidung ohne Verfahren und ohne inhaltliche Entscheidung, ob der Antrag des Antragstellers zurecht oder nicht erfolgte, abgeschlossen würden. Pro Asyl zum Beispiel plädierte deshalb für die Verwendung der „bereinigten Schutzquote“, also ohne diese Fälle (zit. hier und mehr dazu hier).

Zudem steigt die effektive Schutzquote für Afghan:innen dadurch, dass eine sehr große Anzahl von ihnen Erfolg mit Klagen gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge hat. Von Januar bis Ende Juni 2021 gaben Gerichte in 75 Prozent solcher Fälle Afghan:innen Recht und hoben damit negative Entschiedungen des BAMF auf. Fast 5.000 zunächst abgelehnte Flüchtlinge aus Afghanistan erhielten demzufolge allein im ersten Halbjahr 2021 doch noch einen Schutzstatus.

Seehofer hatte noch am 10. August 2021, fünf Tage vor dem Fall Kabuls, mit fünf EU-Amtskollegen Druck auf die nun geflohene Ghani-Regierung ausüben wollen, weiteren Abschiebeflügen zuzustimmen (Brief der Minister hier). Am gleichen Tag wollte die Bundesregierung noch einen ursprünglich für den 3.8.2021 gemeinsam mit Österreich geplanten Abschiebeflug durchziehen. Einige Tage zuvor sprach sich Thorsten Frei, ein führender CDU-Innenpolitiker und stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, für weitere Abschiebungen aus, da insbesondere die großen Städte wie Kabul –„jedenfalls für afghanische Verhältnisse – sicher“ seien.

Bis dahin hatten die Regierungen von Bund und Ländern seit Dezember 2016 in 40 Sammelabschiebeflügen insgesamt 1104 Afghanen in das Kriegsgebiet abgeschoben. An Bord der letzten Sammelabschiebung am 7.7.2021 befandn sich 27 Männer, die zuvor in Bayern (10), Niedersachsen (6), Nordrhein-Westfalen (4), Hessen (3), Hamburg, Brandenburg, Baden-Württemberg und Sachsen (je 1) aufgehalten hatten.

Im August 2021 – dem Zeitpunkt des Taleban-Einmarsches in Kabul – waren Asylentscheidungen für Afghan:innen zurückgestellt worden, weil das BAMF auf eine neue Einschätzung der Lage in Afghanistan durch die Bundesregierung  wartete. Laut dpa werden seit dem 1. Dezember „auf Basis neuer Leitsätze wieder Entscheidungen zu Anträgen von Afghanen getroffen“. Dabei handelt er sich offenbar um den neuen (interimistischen) Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Oktober 2021 (Text und meine Beurteilung hier).

Zum 31. August waren im Ausländerzentralregister fast 30.000 in Deutschland lebende Afghanen als „ausreisepflichtig“ festgehalten, mehr als 27.000 von ihnen hatten aber eine Duldung.

Pro Asyl hatte darauf hingewiesen, dass dieser „Entscheidungsstau … dramatische Auswirkungen“ für diese Menschen hat:

Von September bis Ende Dezember wurde in nur 2.700 Fällen afghanischer Asylsuchender eine Entscheidung getroffen. Im gleichen Zeitraum wurden aber 18.000 Asylanträge von Afghan*innen gestellt (knapp 11.000 Erstanträge und über 7.000 Folgeanträge). Beim BAMF anhängig, also noch nicht bearbeitet, sind insgesamt nun fast 28.000 Afghanistan-Verfahren.

Außerdem waren laut Pro Asyl Mitte letzten Jahres

knapp 21.000 Gerichtsverfahren von afghanischen Asylsuchenden, die zum größten Teil vom BAMF abgelehnt worden waren, anhängig… Somit warten rund 50.000 Menschen aus Afghanistan auf eine Entscheidung über ihre Zukunft. Doch die Betroffenen warten nicht nur auf ihren Schutzstatus, sondern in vielen Fällen auch auf den Nachzug der engsten Familienangehörigen, der für sie ohne Entscheidung über ihren Schutzstatus nicht möglich ist. Angesichts gerichtlicher Verfahrensdauern von durchschnittlich mehr als zwei Jahren ist das ein unhaltbarer Zustand für diese Menschen. … Derzeit stehen knapp 6.000 Menschen aus Afghanistan auf den Terminwartelisten der deutschen Botschaften, die den Nachzug zu ihren bereits schutzberechtigten Angehörigen in Deutschland beantragt haben. Diese Zahl hat sich damit in den letzten sechs Monaten nahezu verdoppelt. Ihre Wartezeit beträgt nach Angaben der Regierung »mehr als ein Jahr«. Dieser Zeitraum wird – vermutlich aus guten Gründen – nicht genauer erfasst, beträgt nach PRO ASYL-Erfahrungen aber in aller Regel weit mehr als 18 Monate. Bis dann ein Visum erteilt wird, vergehen weitere Monate, häufig mindestens ein halbes Jahr. Wohlgemerkt: in diesen Fällen besteht in der Regel ein Rechtsanspruch auf ein Nachzugsvisum.


Trotz der Ankündigung Faesers blinken noch einige Warnzeichen. So wird etwa aus der BMI-Bürokratie weiter quergeschossen. In der Migrationsabteilung des Ministeriums herrsche dem bereits zitierten dpa-Bericht zufolge „Skepsis“, die in einem „Sondervotum“ artikuliert worden sei, in dem er heiße, es sei unklar, „anhand welcher objektiven Kriterien“ die Prognose einer perspektivisch steigenden Schutzquote für Afghanistan ermittelt worden sei. Außerdem schaffe das einen Präzedenzfall für andere Herkunftsländer.

Die nun oppositionelle CDU haut in dieselbe Kerbe. Faesers Entscheidung sei „als klares Signal der neuen Bundesregierung für eine lockerere Asylpolitik zu werten“, zitierte dpa den innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm. Bedenklich sei insbesondere, „dass sie hierdurch mit dem bisherigen Verfahren bricht, dass an objektiven Kriterien ausgerichtet war“. Nun ja, siehe oben. 

Bedenklich sind auch zwei Fälle von Entscheidungen aus Dänemark und Australien. In Dänemark hatte am 11. Februar die Flüchtlingsbehörde im Fall eines Afghanen entschieden, dass er nach der Ablehnung seines Asylgesuchs abgeschoben werden kann, wenn er das Land nicht freiwillig verlasse. Die „allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan an sich“ würden einen Schutzstatus nicht begründen, da sie sich nach der Machtübernahme der Taleban „verbessert“ habe. U.a. wird auf einen Bericht der EU-Behörde EASO vom November 2021 Bezug genommen, in dem der (zutreffende) Bericht einer afghanischen Nachrichtenagentur zitiert wird, dass sich seitdem die Zahl der zivilen Opfer stark verringert hat und (ebenfalls korrekt) bisher keine systematische Verfolgung bestimmter Gruppen nachzuweisen ist. Tatsächlich ist der Krieg (abgesehen von Anschlägen des ISKP – dazu siehe hier) vorüber – allerdings hat sich die Menschenrechtslage trotzdem rapide verschlechtert.

Am gleichen Tag hatte eine Bundesgericht in Australien laut einem Bericht des Guardian eine Klage der dortigen Regierung zugelassen, die einen Hasara-Asylbewerber mit ähnlicher Begründung nach Afghanistan abschieben will.

Die Frage ist auch, ob einzelne Landesregierungen versuchen werden, sich über Faesers Ansage hinwegzusetzen, besonders jene, die bisher besonders aggressiv abschoben, wie Bayern, Sachsen oder auch Baden-Württemberg und Hessen.

Pro Asyl schlug unterdessen vor, endlich das Los jener afghanischen Asylbwerber:innen zu erleichtern, die bisher prekär auf Duldungen angewiesen sind:

Für  die rund 30.000 afghanischen Staatsangehörigen, die bereits länger in Deutschland leben und die in früheren Asylverfahren keinen Schutz zugesprochen bekommen haben (und deshalb  schon seit Jahren im prekären Status der Duldung leben), bedarf es darüber hinaus auch einer bleiberechtlichen Perspektive, da sich die Situation in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht verbessern wird und ihr weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet entsprechend von langer Dauer sein wird.

Eine bleiberechtliche Lösung sollte durch die Anwendung von § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes erfolgen. § 60a Abs. 1 S. 2 AufenthG sieht vor, dass bei einem länger als sechs Monate währenden Zeitraum Abschiebungen nicht mehr nur über § 60a Abs. 1 AufenthG ausgesetzt werden sollen, sondern § 23 Abs. 1 AufenthG gilt. Das heißt dass bei einer Lage, bei welcher sich über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus Abschiebungen verbieten, nicht nur Duldungen auszustellen, sondern Aufenthaltserlaubnisse nach dieser Vorschrift zu erteilen sind. Bei bisherigen Abschiebestopps ist dieser vorgesehene gesetzliche Mechanismus nie zur Anwendung gelangt. Diesen gilt es aber zu nutzen, um zu vermeiden, dass Betroffene dauerhaft im Duldungsstatus verbleiben. Da jetzt bereits absehbar ist, dass sich die Situation in Afghanistan in den nächsten sechs Monaten nicht verbessern wird, fordert PRO ASYL die sofortige Anwendung von § 23 Abs. 1 AufenthG und die entsprechende Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen. Damit würde den Betroffenen von vornherein Rechtssicherheit für ihren weiteren Verbleib in Deutschland gewährt. Auch hätten Arbeitgeber von Betroffenen  so mehr Planungssicherheit.